Wer bin ich?, das ist die große, vielleicht größte Frage. Sie stand über Delphis Tempel als ‹Gnothi seauton› (Erkenne dich selbst) und gehört zum Kern geistiger Entwicklung, ist Triebfeder einer guten Geschichte.
Vermutlich gibt jeder darauf im Lauf des Lebens immer neu Antwort und kommt so sich selbst auf die Spur. «Der längste Weg ist der Weg zu sich selbst», notiert dazu Dag Hammarskjöld. Näher rückt die Frage, wenn wir sie dem oder der Nächsten stellen: Wie siehst du mich?, denn der oder die andere hat oft den Schlüssel zur Tür für diesen Weg zum Selbst. Freund und Freundin vermögen oft viel mehr zu sehen, mehr zu sagen, wie und wer man ist. Am tiefsten wird die Frage, wenn man sie der oder dem Allernächsten stellt: Wie liebst du mich? Das tut King Lear. So tief die Frage ist, so unmöglich ist sie, denn das Wie der Liebe liegt jenseits allen Beteuerns. «Meine Liebe wiegt schwerer als mein Wort!», hört er deshalb von seiner jüngsten Tochter. Dazu muss das Herz zum Ohr werden, und dieses Herz, Königin in der Seele, muss der König erst finden. Er muss alles von sich geben, seine Kleider, seinen Verstand, um dann im Freien anzukommen und dort die Antwort zum Selbst zu finden.
Foto François Croissant