In seinem Buch ‹Anthroposophie. Ein Fragment› beschreibt Rudolf Steiner die Anthroposophie als einen spirituellen Weg, der mit der Erforschung der Sinne beginnt. Rückblick auf die Studientagung der Sektion für Schöne Wissenschaften mit dem Thema ‹Vom Sinn der Sinne› vom 16. bis 18. März 2018 am Goetheanum.
«In anthroposophischer Beleuchtung darf alles dasjenige ein menschlicher Sinn genannt werden, was den Menschen dazu veranlasst, das Dasein eines Gegenstandes, Wesens oder Vorganges so anzuerkennen, dass er dieses Dasein in die physische Welt zu versetzen berechtigt ist.» (1) so definiert Rudolf Steiner seinen Sinnesbegriff in dem Werk ‹Anthroposophie. Ein Fragment›.
Die Beiträge von Martin Basfeld, Christiane Haid, Detlef Hardorp, Jaap Sijmons und Seija Zimmermann, mit anschließendem moderiertem Podiumsgespräch, gaben eine fundierte Grundlage und Einführung in die Thematik des Buches ‹Anthroposophie. Ein Fragment›, in dem Rudolf Steiner aus der Wissenschaft der Sinne eine Wissenschaft des Ich entwickelt. (2) Einzigartig für diese Tagung war ja, dass ein jeder Teilnehmer, ob ‹Vortragender› oder ‹Zuhörer›, in der Sache eine jahrzehntelange Kompetenz als Sinnesmensch mitbrachte – allein durch die Tatsache seines Menschseins.
Bei der Arbeitsgruppe ‹Das Geruchserlebnis und der Ich-Mensch – praktische Übungen zum Hervorbringen imaginativer Bilder› hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, in einer experimentellen Situation die Wahrnehmungen des Geruchs- und des Geschmackssinns in die Bildsprache einfacher farbiger Pastellkreidezeichnungen zu übersetzen. Eine Gruppe von drei Prüfobjekten wurde jeweils hintereinander untersucht. Hierbei war entscheidend, dass die Probanden das Prüfobjekt a priori nicht kannten. Das Erkennen des Objektes war auch nicht Ziel der Übung, sondern die reine Übersetzung des Sinneserlebnisses und der sich daran anschließenden Wahrnehmungen in das farbige Kreidebild. Eindrucksvoll war, wie einheitlich diese Kreidebilder ausfielen.
Die Arbeiten der Arbeitsgruppe vermittelten das Erlebnis einer gewissen ‹Objektivität›, eines ‹Wahren›, eines ‹allgemein menschlich Gültigen›, das aus der eigenen Organisation aufstieg, indem die hier experimentell untersuchten Sinneswahrnehmungen Geschmack und Geruch bildgebend in die Pastellzeichnungen übertragen wurden. Die Objektivität kam hier zum Ausdruck, indem das aus der Welt zum Menschen kommende Sinneserlebnis (Geruch/Geschmack) in imaginative Erlebnisse verwandelt und in einen vom Menschen in die Welt strömenden Willensimpuls (Pastellzeichnung) transformiert wurde. Rudolf Steiner bezeichnet solche Erlebnisse als ‹subjektiv-objektiv›.
Bei dem gerade beschriebenen allgemein menschlichen Charakter der Sinneswahrnehmung ist es dann auch nicht verwunderlich, dass sich die Menschheit seit ihrer Möglichkeit zur Bewusstseinsbildung mit den Sinnen befasst hat. So kennt schon die Bhagavad Gita die fünf Sinne. Aristoteles macht mit seiner ganz richtigen Sinneslehre den Anfang, der als Vorwegnahme von Rudolf Steiners Sinneslehre gelten kann. Bei Rudolf Steiner haben wir dann aber erstmals eine neue Systematik der Sinne. Die Vielfalt von mehr als fünf Sinnen wurde allmählich bekannt, aber erst Rudolf Steiner gestaltete die zwölf Sinne begrifflich zu einem Gesamtorganismus. In Ausführungen der Vortragenden der Tagung kam immer wieder der Bezug zu den Grundsatzfragen menschlicher Erkenntnis und der Bezug zwischen menschlichem Ich und Welt zur Sprache. Jaap Sijmons schilderte in seinem Abschlussbeitrag, dass das ‹Fragment›, Rudolf Steiners Sinneslehre, eine direkte Beziehung zu Friedrich Schellings Sinneslehre (3) aufweist. Damit spannt sich ein geistesgeschichtlich wichtiger Bogen zum deutschen Idealismus.
Das Werk ‹Anthroposophie. Ein Fragment› beschreibt einen Weg, um über das Verständnis der Sinne zu einem Verständnis des menschlichen Ich zu kommen. Das Werk ist umfassend und wird doch als Fragment bezeichnet. Darüber mag manch einer spekulieren: Fragment ist es möglicherweise, weil es mehr Fragen als Antworten aufweist? Weil Rudolf Steiner es aus irgendwelchen Gründen nicht zu Ende geschrieben hat? Oder ist es – wie Jaap Sijmons in seinen Schlussworten zum Ausdruck brachte – ein Fragment deshalb, weil wir Menschen noch ein ‹Fragment› sind?
Wie bei den anderen Grundwerken im Werk Rudolf Steiners erschließen sich beim Studium des ‹Fragments› immer wieder neue Schichten, je öfter es angeschaut wird – insbesondere dann, wenn dieses Anschauen in einer Gemeinschaft von Menschen geschieht.
(1) Rudolf Steiner. Anthroposophie. Ein Fragment. ga 45. 4. Auflage. S. 23. Rudolf Steiner Verlag, Dornach, 2002.
(2) Bezüglich der Grundinhalte der Beiträge und Hintergründe zu den Autoren sei auf die Ausgabe 9, 2018, S. 6–9 des Goetheanums verwiesen.
(3) F. W. J. Schelling: System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere (1804), hrsg. von seinem Sohn K. Schelling, 1856 und 1861. In: F. W. J. Schelling, Ausgewählte Schriften in 6 Bd., Bd. 3, S. 141–587. Suhrkamp Verlag.
Foto: Xue Li