‹Der Besucher› am Goetheanum

Ein Projektensemble der Goetheanum-Bühne inszeniert das Kammerstück ‹Der Besucher› von Éric-Emmanuel Schmitt. Sigmund Freud wird darin zweifach heimgesucht. Zum einen holt die Gestapo seine Tochter Anna ab und zugleich tritt ein geheimnisvoller Unbekannter in Freuds Wohnung. Der Unbekannte deutet an, dass er – Gott ist! Als überzeugter Atheist nimmt Freud die Worte des Besuchers nicht ernst, doch dessen hellseherische Fähigkeiten stimmen den gottfernen Freud nachdenklich. Ein Gespräch mit dem Regisseur Gosha Gorgoshidze.


Du probst gerade das Bühnenstück ‹Der Besucher› von Éric-Emmanuel Schmitt. Mit dem Bühnenautor Schmitt hast du dich ja schon länger beschäftigt, oder?

Gosha Gorgoshidze Das Stück ‹Der Besucher› liegt tatsächlich schon lange in meiner Schublade. Der Autor Éric-Emmanuel Schmitt wirft Fragen auf, an die man heute in der Dramaturgie kaum herangeht. Es sind Fragen nach der Spiritualität, nach der Beziehung von uns Menschen zur spirituellen Dimension. Er hat ja selbst spirituelle Erfahrungen durchgemacht. Das beschreibt er in seinem Buch ‹Nachtfeuer›. Er ging damals in der Sahara-Wüste verloren, als er mit einer Gruppe dort unterwegs war. Es erinnert an die Geschichte von Antoine de Saint-Exupéry. Er beschreibt, wie er sich in dieser Einsamkeit in alle Richtungen wenden konnte und doch nur die unendliche Wüste vor sich hatte. Er war so überwältigt von diesem Gefühl, dass er dabei in die falsche Richtung lief und seine Gruppe verlor. In der Wüste ist es am Tag so heiß, wie es in der Nacht kalt ist. Er musste sich im Sand eingraben, um der Kälte zu entgehen. In diesem Zustand erlebte er, wie er seinen Körper verließ. Seine Seele erweiterte sich und umfasste die Landschaft. Er konnte die Wärme und das Licht des Weltwesens fühlen. Dieses Erlebnis war ausschlaggebend sowohl für sein Leben als auch für seine Entscheidung, Schriftsteller zu werden.

Gosha Valerian Gorgoshidze. Foto: Wolfgang Held

Dabei spielen häufig religiöse Themen eine Rolle.

Ja, er hat sich mit allen großen Religionen beschäftigt und jeder Religion ein Werk gewidmet. In ‹Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran› schildert er zum Beispiel die Auseinandersetzung von Islam und Judentum. Das Spannende an Schmitt finde ich dabei, dass er tief und zugleich leicht schreibt – mich erinnert das an Mozarts Kompositionen: leicht und tief.

Er wählt dabei dramatische Umstände.

In ‹Der Besucher› führt uns Schmitt in das Wien von 1938 zur Zeit des Anschlusses an das Deutsche Reich. Sigmund Freud ist in seiner Wohnung in der Berggasse und seine Tochter wird von der Gestapo entführt. Das hat ja so stattgefunden. Nun lässt Schmitt aber noch einen weiteren Besucher auftreten, den Unbekannten. Das erinnert an Dostojewskis ‹Großinquisitor›, an Johannes Taulers oder Jakob Böhmes Begegnungen und auch an Rudolf Steiners Treffen mit seinem ‹Meister›. Plötzlich bricht eine höhere Welt herein, mit der sich das ganze Leben und die Seelenverfassung ändern. Dabei lässt der Besucher Freud völlig frei. Dazu gehört, dass dieser geheimnisvolle Besucher seine Identität nicht preisgibt. Es gibt Stellen im Stück, wo Freud beginnt, sich mit ihm zu verbinden. Sogleich geht der Unbekannte auf Abstand. Ja, es geht immer um eigenes, selbstständiges Denken, um ein individuelles Erlebnis. Auch den Zuschauenden bleibt die Frage nach der Identität des Besuchers.

Im Stück geht es um Sigmund Freud. Er hat die Psychoanalyse begründet und zugleich den materialistischen Blick auf die Seele gebahnt. Jetzt begegnet ihm eine göttliche Gestalt. Was geschieht da?

Freud ist ja Atheist. Er ist nicht mal Agnostiker. Das Spannende ist dabei: Wenn man in der Berggasse in Wien seine Wohnung anschaut, findet man überall im Haus spirituelle Themen vor! An Wänden und auf Regalen finden sich griechische Skulpturen und Buddhas. Er hat es sich mit dem Atheismus nicht leicht gemacht, auch wenn er in seinem letzten Buch ‹Der Mann Moses und die monotheistische Religion› die Religion auf Komplexe im Menschen reduziert. Er erklärt, dass Heranwachsende, die an ihren Eltern verzweifeln, das Vater- oder Mutterbild in den Himmel projizieren. Es ist das große Verdienst von Freud, das Unterbewusstsein verstehen zu lernen. Um mit Faust zu sprechen: Das ist sein Gang in das Reich der Mütter, in das Mütterliche. Da sind wir alle frei, damit weiterzuarbeiten. Im Stück sagt der Unbekannte über Freud und sein Werk: «Viele Wahrheiten und genauso viele Irrtümer, in einem Wort: ein Genie.»

Rudolf Steiner nennt drei Bedingungen, dass Anthroposophie öffentlich auftreten könne. Es müsse die Evolutionstheorie, die Spektralanalyse und eben die Psychoanalyse in der Kultur angekommen sein. Denn diese drei Disziplinen erklären Vergangenheit, Innerseelisches und Kosmisches als materiell. Damit gibt es keinen Anker mehr für Geistiges. Wir sind ganz im Diesseits angekommen.

Die psychoanalytische Bewegung ist im 20. Jahrhundert eine wichtige und prägende Bewegung geworden. Aus ihr wuchs nicht nur die Therapie, sondern die Pädagogik, die Kinderpsychologie. Sie hat Literatur, Theater, ja die ganze Kunst unglaublich bis heute beeinflusst. Der Anthroposophie steht es laut Rudolf Steiner noch bevor, die Frage nach der Sexualität zu beantworten, obwohl in den letzten Jahrzehnten dafür einiges geleistet wurde. Freud ist allerdings ein Pionier auf dem Gebiet.

Nun zur Inszenierung des Stückes: Was ist dein Bild des Stückes, was leitet dich?

Das Stück ist ein Dialog! Ja, es ist ein großer Dialog, wobei es um Fragen geht, die mich als Zuschauer direkt betreffen. Da kann ich keine Distanz aufbauen, sondern es sind Fragen, die aus der eigenen Seele hervorzukommen scheinen.

Was bedeutet das für die Regie?

Dass wir versuchen, möglichst differenziert zu sprechen, und einen Ton finden, der genau dem Erlebnis entspricht. Es bricht im Stück ja nicht nur der Himmel herein, sondern auch die nationalsozialistische Ideologie. Es geht deshalb um Worte, die das Leben entscheiden. In und mit der Sprache öffnet sich im Stück mal der Himmel, mal die Gewalt.

Ihr spielt im Grundsteinsaal. Wie kommst du mit dieser Bühne zurecht?

Dieser Saal ist für Theateraufführung nicht einfach. Er wirkt wie eine Höhle. Gleichzeitig läuft dort alle Energie zur Bühne hin, nimmt die Bühne ins Visier. ‹Der Besucher› ist ja ein Kammerspiel und dafür hat der Grundsteinsaal die richtige Größe.

Was bedeutet für dich die historische Umgebung – 1938?

Die Frage des Nationalismus ist heute wieder hochaktuell – das gilt nicht nur für den Nationalismus, sondern auch imperialistische Bestrebungen sind heute stärker denn je. Ich komme aus Georgien und weiß deshalb sehr gut, wie es ist, dem Wahnsinn von Nationalismus oder Imperialismus ausgesetzt zu sein. Und was entscheidet da über mein Schicksal? Wie ich zur Spiritualität stehe! Es geht dabei immer um die Frage der Freiheit, und die hängt mit der Frage nach der Spiritualität zusammen. Freud war ja ein freier Geist. Er hat in seiner Zeit nicht nur in bürgerlichen und kirchlichen Kreisen Widerstand erfahren, sondern auch auf dem Feld der Wissenschaft. Er fühlte sich, da bin ich mir sicher, auf vielen Ebenen allein. Er hat sich dabei nicht gescheut, sich als freier Mensch zu outen. Im Stück gibt es dazu einen wunderbaren Moment. Als er ausreist, muss er ein Papier unterschreiben, ein Lob auf die Gestapo. Er schreibt dann ironisch: Ich empfehle jedem, mit der Gestapo zu tun zu haben.

Das war mutig!

Ja, das war mutig, das hat er riskiert. Das eigene Schicksal im großen Schicksal – darum geht es in dem Stück. Wie verstehe ich mein eigenes Schicksal oder das Schicksal meines Volkes in dem großen Zusammenhang? Die Frage der Gerechtigkeit, die Frage, ob ich mit meinem Schicksal hadere oder nicht. Das sind die Fragen, die in diesem Stück bewegt werden.

1938, da formiert sich der Nationalsozialismus als frontaler Angriff auf die Weltseele, und gleichzeitig geht es bei Sigmund Freud um die Expedition ins Innere der menschlichen Seele und – wenn auch auf materieller Ebene – doch um die Heilung der Seele. Der Nationalismus will Mauern errichten, Freud seelische Mauern niederreißen.

Der Nationalismus macht die Einzelnen zu Gruppenwesen und Freud sucht nach der Seele mit ihren eigenen Erlebnissen und Prägungen. Bin ich ein einzelner Mensch, der lernt, sich tiefer innerlich zu erfahren, oder bin ich Vertreter von irgendetwas? Die Fragen stellt das Stück: Willst du einen anderen erkennen? Beobachte dich selbst. Willst du dich selber erkennen? Schau auf die anderen. Was mit dem Nationalismus läuft, ist das Gegenteil davon. Da darf niemand anders sein. Zu den Mauern: Der Unbekannte konfrontiert Freud mit dem Widerspruch, Blockaden abbauen zu wollen, aber zugleich gegenüber dem Spirituellen selbst Blockaden zu errichten. Übrigens sagt Rudolf Steiner dazu, dass man Freud mit Freud behandeln solle.


Aufführungen Sa, 18.11.2023 (Premiere) und Sa, 25.11., 19 Uhr. So, 19.11. und So, 26.11., 16.30 Uhr im Grundsteinsaal, Goetheanum

Weitere Aufführungen im Januar und Mai 2024

Regie Gosha Gorgoshidze
Schauspiel Jens Bodo Meier, Christian Richter, Sandra Giraud und Peter Meyer
Gesang Ingala Fortagne
Klavier Nadia Belneeva


Foto François Croissant

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