Denken ist Anwesenheit im Geiste

Mehdi Hairi Yazdi erforschte das Ich und schuf durch sein Denken eine Brücke zwischen Philosophie und Religion.


Was ist Denken? Was ist sein Zweck? Was bedeutet Denken in der Gesamtheit der menschlichen Natur und im gesamten Plan der Schöpfung? Diesen Fragen geht, unabhängig davon, was seit Descartes in der westlichen Welt vor allem im diskursiven Denken sich entwickelte, tiefgreifend und eigenständig Mehdi Hairi Yazdi (1923–1999) nach. Er wurde im Iran geboren und ist in einer Familie von hochgebildeten Akademikern und Geistlichen, die Lehrer in der schiitischen Philosophie und Theologie waren, aufgewachsen. Er hat eine klassische Ausbildung in Philosophie, Theologie und ‹’irfan› [Anm. d. Red.: Islamische Vorstellung eines Geheimwissens] an der Universität in Ghom genossen – dem wichtigsten Zentrum für dieses Studiengebiet. Später studierte er an der Universität in Teheran, wo er 1952 seinen Doktortitel in Theologie erlangte. Er war ebenso interessiert an westlicher Epistemologie sowie an den Methoden der Wissenschaft als solche. Viele Jahre vertiefte er sich in die Arbeiten von Avicenna (980–1037), einem universellen Genie, das mit der neuplatonischen Schule vertraut, aber selber Peripatetiker war und eine ‹Summa› im Geiste der Metaphysik von Aristoteles geschrieben hat. Mehdi Yazdi studierte Texte des Mathematikers und Astronomen Nasir al-Din Tusi (1201–1274) und von Mullah Sadra (1571/2–1635/40), dem Inaugurator der persisch-philosophischen Renaissance. Aber der wichtigste Lehrer Yazdis, dem man in jeder seiner Schriften immer wieder begegnet, war Shihab al-Din Yahya Suhrawardi (1154–1191).

Aus den Lehrschriften Zarathustras und den Werken der neuplatonischen Schule, die aber auch die Gedankenwelt der Peripatetiker und Avicennas mit einschließt, hat Suhrawardi einen ganz neuen Anfang des iranischen Denkens initiiert, das von ihm als Sonnenaufgang bezeichnet wurde. Das war keine Metapher, sondern eine reale Erfahrung: Es ist das Denklicht, das in der Seele aufgeht und sie nicht nur erleuchtet, sondern sie mit dem schöpferischen Vermögen des Erkennens beschenkt. Es ist die Präsenz des Geistes in der Seele: Denken im Lichte des Geistes.

Während seines Aufenthaltes in Kanada (Toronto) und in den USA (Michigan) studierte Yazdi mit der gleichen Leidenschaft die Werke von Kant, Hegel, James, Russell, Wittgenstein und anderen wie jene von den persischen Philosophen im Iran.

Aus dieser tief verwurzelten Verbindung mit der uralten Denktradition Irans versenkte er sich in die Problematiken, die zu dieser Zeit in der westlichen Epistemologie diskutiert wurden, in der Hoffnung, dass dies ihm ermöglichen würde, einen Beitrag zur islamischen Philosophie im Gesamten zu leisten.

1979 kehrte er in den Iran zurück, wo er bis zu seinem Tod vor allem an der Universität Teheran lehrte. In der Arbeit ‹The Principles of Epistemology in Islamic Philosophy. Knowledge by Presence› (1992) entwickelte Yazdi das Thema ‹Erkenntnis durch Präsenz› (’ilm al-hudur). Dieser Begriff stammt allerdings nicht von Yazdi, sondern von Suhrawardi, der ihn zum ersten Mal verwendete.

Mehdi Yazdi war nicht der einzige iranische Philosoph des 20. Jahrhunderts, der seine Studien im Westen fortführte bzw. der offen war für das, was sich in der Philosophie der westlichen Welt entwickelte. Aber er war einzigartig, indem er das westliche Denken zu seinem machte, um es gegenüber dem philosophischen Diskurs zu testen, der sich in der islamischen Welt entwickelt hatte, und umgekehrt, um das Denken des Geistes für das Licht des diskursiven Denkens, das in den letzten Jahrzehnten so vorherrschend im Westen wurde, sichtbar zu machen. Yazdis großes Thema war ‹Erkenntnis in und durch Anwesenheit›, was einen recht spezifischen Bewusstseinszustand voraussetzt – nämlich das Aufgehen des Denklichts in der Seele.

Zwei Wege zur Erkenntnis

Yazdi unterscheidet zwei Formen der Erkenntnis: Erkenntnis durch Korrespondenz und Erkenntnis durch Präsenz. Um den Unterschied zu begründen, hat Yazdi die Denkprozesse für diese beiden Formen phänomenologisch beschrieben. Ihn interessierte an dieser Frage, ob eine Denkform existiert, in der die klassische Dichotomie von Subjekt und Objekt nicht mehr maßgeblich ist. Yazdis erster Schritt in diese Richtung war, zu beschreiben, was passiert, wenn jemand sagt: «Ich denke.» Das Ich, das sagt: «Ich denke», und das Ich, das denkt, sind keine zwei verschiedenen Wesenheiten; sie sind ein und dasselbe. Ich weiß aus unmittelbarer innerer Erfahrung, dass es so ist. Man muss in diesem Fall keine Stellvertretung einfügen, so als ob ich mir zunächst eine Stellvertretung für mein eigenes Ich machen müsste, um zur Aussage zu kommen, dass ich denke. Es ist wichtig, zu erkennen, dass wir es hier mit einer gut definierten Situation zu tun haben, nämlich der des Denkens!

Dieses unmittelbare innere Wissen (Intuition) in der Transparenz der Erkenntnishandlung selbst ist das, was Yazdi widerspruchsfrei mit Suhrawardi ‹Erkenntnis durch Anwesenheit› nannte. Der Denkprozess muss daher beschrieben werden. Aufgrund seiner über viele Jahre erworbenen tiefen Vertrautheit mit den Vertretern westlicher Philosophie (Descartes, Hume, Kant, Hegel, aber auch Heidegger, Russell, Wittgenstein, Popper und Habermas, mit dem er in seiner Arbeit in Dialog trat) war Yazdi fähig, mit großer Präzision die Charakteristika des logisch-diskursiven Denkens allgemein und die Trennung von Subjekt und Objekt im Speziellen offenzulegen. Andererseits, was die Erkenntnis durch Anwesenheit anbelangt, konnte sich Yazdi damit rühmen, Teil einer jahrhundertealten Tradition in der iranischen Philosophie zu sein, in der Avicenna, Suhrawardi und Mullah Sadra nicht nur den Grundstein legten für das Denken im Lichte des Geistes, sondern, und das ist weitaus wichtiger, eine Sprache schufen, die als Instrument gebraucht werden kann, um die individuellen Momente dieses Denkens in seiner Natur als Prozess auszudrücken.

Der Dreiklang des Denkprozesses

Es ist wichtig, dass Yazdi, als er in den Fußstapfen seiner Vorgänger den Denkprozess beschrieb, immer in der Begrifflichkeit eines Dreiklangs sprach: das Erkennende, das Objekt der Erkenntnis und das Denken, das als Aktivität eine Brücke zwischen den beiden baut. In der analytischen Erkenntnis (im Gegensatz zum diskursiven Denken) ist das Erkenntnisobjekt außerhalb desjenigen, welches erkennt. Das Denken muss sich Darstellungen bedienen, die bereits vorhanden sind. Die Wahrheit entsteht, wenn eine Übereinstimmung zwischen der Darstellung und dem Objekt außerhalb aufgezeigt werden kann. Diese Art der Erkenntnis hat alle möglichen Fragen nach methodischer Gewissheit aufgeworfen. Die verschiedenen Standpunkte dabei (Habermas, Popper, Russell) definieren die westliche Philosophie heute noch immer im Zeichen einer Dualität und Trennung des erkennenden Subjekts und des erkannten Objekts. In der ‹Erkenntnis durch Anwesenheit› erscheint das Erkenntnisobjekt nicht in einem anderen Gefilde als dem des Erkennenden. Anders gesagt, dasjenige, auf das die Aktivität des Denkens gerichtet ist, erscheint im selben Bereich wie das, was die Denkhandlung ausführt. Dieser Prozess weist auf Selbsterkenntnis hin, jedoch darf das nicht mit der Einsicht verwechselt werden, in der das Selbst wie ein externes Element vor dem Blick des Erkennenden behandelt wird und Darstellungen des Selbst gemacht werden müssen. Auch wird der denkende Mensch nicht gleichsam zu Subjekt und Objekt. Es ist keine ‹Unio mystica›! Yazdi hat das mystische Erleben und seine Übersetzung – wieder sehen wir die große Bedeutung von Sprache und ihrem Gebrauch – als besondere Form der ‹Erkenntnis durch Anwesenheit› beschrieben. Aber in dieser zweiten Form der Erkenntnis bleibt das Grundmuster des Dreiklangs das hervorstechende Charakteristikum. Es ist die Dynamik zwischen den drei Elementen, die Erkenntnis zur ‹Erkenntnis durch Anwesenheit› macht. Die Rolle des Denkens transparent zu machen, bleibt eine notwendige Bedingung. Weder Selbstanalyse noch Fusion, sondern eine vollumfänglich erweckte Anwesenheit im Akt des Sich-selbst-Denkens – dies läuft darauf hinaus, in sich selbst präsent zu sein. Es ist ein Denken, das sich selbst durch den Prozess der Denkhandlung trägt. Yazdi betrachtet alle anderen Erkenntnisformen, etwa Erkenntnis, in der das Objekt ein externer Faktor ist, als von diesem selbst getragenen Denken abgeleitet. Und während im ‹Denken durch Übereinstimmung› immer ein Faktor der Ungewissheit bleibt, der durch den Cartesischen Zweifel überwunden werden muss, betrachtet Yazdi die ‹Erkenntnis durch Anwesenheit› als ‹Leben in der Unmittelbarkeit der Wahrheit›. Zwischen dem Erkennenden und dem Erkenntnisobjekt ist keine Darstellung, die als Brücke zwischen Subjekt und Objekt funktionieren muss. Das Erkennende und das Erkenntnisobjekt sind beide identischer ‹Natur›. In der Dynamik des Erkenntnisprozesses wird das gegenseitig wahrgenommen und es wird zu einer Erfahrung der ‹Ganzheit›, die mit einem Glückserleben verglichen werden kann.

Mehdi Haeri Yazdi, Historic Collection / Alamy Stock Foto

Befreiung

Für das diskursive Denken ist die Aufteilung in Subjekt und Objekt eine Voraussetzung. Es ist dieser Dualismus zwischen Erkennendem und Erkenntnisobjekt, der dieses Denken ausmacht. Das, was ich weiß (der subjektive Pol des Denkprozesses), und das Gewusste (der objektive Pol) müssen miteinander übereinstimmen, damit das Denken Gewissheit bietet und zur Wahrheit führt. Wissen durch Anwesenheit findet außerhalb dieses Dualismus statt. Es ist jenseits der Aufteilung in Subjekt und Objekt. Yazdi beschreibt dies als Befreiung von dem Zwang, Beweise zu erzeugen, denn diese Form von Erkenntnis braucht keinen Beweis in der Natur des Konsenses. Ein Beweis wird benötigt, wenn das Erkenntnisobjekt außerhalb von mir liegt. Dann braucht man eine Darstellung, um, man könnte sagen, das Erkenntnisobjekt zu verinnerlichen. Das Konsensprinzip herrscht dann vor als Kriterium von Wahrheit oder Unwahrheit. Dieses Prinzip kann jedoch im Falle der Erkenntnis durch Anwesenheit nicht angewendet werden. Yazdi lehnte das Wahrheitskriterium der Übereinkunft nicht ab, er zeigte auf, dass dies nur anwendbar ist im Falle logisch-diskursiven Denkens und von Erkenntnis durch Konsens auf der Basis der Aufteilung in Subjekt und Objekt. Allerdings, wenn es ein Fall der Erkenntnis durch Anwesenheit ist, braucht man ein anderes Kriterium. Dieses Kriterium ist in der Tätigkeit des Denkaktes vorgegeben. Die Denktätigkeit schafft ein einheitliches Feld, in dem das Erkennende und das Erkannte als Teil ein und desselben Feldes erscheinen. Das Erkenntnisobjekt ist in diesem Falle immanent und benötigt keinerlei Darstellung. Deshalb ist es befreit von der Notwendigkeit, Übereinstimmung zu zeigen. Das bedeutet nicht, dass das Erkennende und das Erkannte sich decken. Yazdi spricht hier von einer Korrelation im selben Existenzfeld.

Das Ich ist kein Ding

Die Selbsterkenntnis, die während dieses Prozesses entsteht, ist für Yazdi ein klares Beispiel für Erkenntnis durch Präsenz. Dies ist (noch) nicht die Selbsterkenntnis, die im Verlaufe einer stetig zunehmenden Intensität der Erkenntnisfähigkeit entwickelt werden kann, aber es ist eine Art Vorspiel. Auch ist es keine Selbsterkenntnis durch Psychologie, die mit Darstellungen gleich Vorstellungen, die nur die Außenseite erfassen, arbeitet. Es ist Selbsterkenntnis im Sinne von: innerlich vollständig durchscheinend werden für sich selbst als Realität. In anderen Worten: Nicht Erkenntnis bezüglich sich selbst, sondern anwesend werden in und zu sich selbst. Kein dargestelltes Ich, das ein ‹Ding› bleibt, sondern ein Ich, das in Anwesenheit offenbart wird. Im einfachsten Fall, wenn ich zum Beispiel sage: «Ich weiß, dass mein Nachbar zu Hause ist», ist da ein Wissen (Gegenstand des Wissens), mit dem ich mich selbstverständlich verbinde über das Ich, das dies weiß (das Wissende). Auch wenn ich das «Ich weiß» weglasse und lediglich sage: «Mein Nachbar ist zu Hause», verbinde ich das Wissen immer noch mit dem Wissenden, nämlich mit mir. Es kann kein Wissen geben, wenn es nicht gleichzeitig mit jemandem, der weiß, in Verbindung gebracht werden kann. Wenn wir uns eine Aussage wie «Ich kenne mich» ansehen, ist es offenkundig, dass ich das «mich» als Gegenstand des Wissens verbinde mit dem «Ich», das weiß.

Das zugrunde liegende Motiv für Yazdis Argument war ein unterschwelliger Widerspruch zu Russell und seiner analytischen Schule. Die Realität des Ich, ob es nun auf der Seite des Wissenden oder auf der Seite des Gegenstands des Wissens erscheint, kann nur mit Erkenntnis durch Anwesenheit erkannt werden. Wenn es möglich ist, es als Darstellung (Erkenntnis durch Übereinstimmung) zu kennen, wird es auf ein ‹Es› reduziert. Dann aber verliert es jede Realität. Es ist dann ein Wort, das willkürlich im Spiel der Sprache verwendet werden kann. Im Falle des Ich aber funktioniert dieses nominalistische Spiel nicht; Yazdi schrieb in seinem Kommentar zu einer Stelle bei Suhrawardi, dass nur die Aussage ‹Ich› sich radikal von allen anderen Aussagen unterscheide und das Paradox des Subjektiven und des Objektiven, das heißt: Ich oder Es, in diesem Falle aufgehoben wird.1 Das Ich, das Yazdi meint, in einer Linie mit seinen großen Vorgängern, ist das Ich, das sich in seiner vollkommenen Realität offenbart durch den Akt der Erkenntnis. Die Realität meines Ich wird unmittelbar erfahren – das heißt ohne jede Mittelbarkeit! – in der Handlung meines Denkprozesses. Es ist darauf hinzuweisen, dass er die logische Argumentation von Suhrawardi anwendete, um das zu demonstrieren.

Zwischen Suhrawardi und Bertrand Russell liegen tausend Jahre, das heißt jedoch nicht, dass eine Gegenüberstellung ihrer unterschiedlichen Wege zur Erkenntnis nicht auch aktuell von Interesse ist. Unter allen möglichen Gegenständen ist immerhin einer und nur einer, der seine Existenz nicht von einem anderen Gegenstand ableitet, das ist das Ich. Das Ich entsteht und existiert aus der Selbstbetrachtung, die sich im Akt der Erkenntnis vollzieht. «Diese Art von Ich kann niemals unter keinen Umständen zu einem Es gewandelt werden.» («This sort of I can never be converted under any circumstances into it or the like.»)2 Yazdi sprach von einem Ich, das einzigartig und singulär geworden ist, in dem jede Spaltung überwunden ist. Mehr noch, dieses Ich ist gleichsam der ‹locus manifestationis› (Ort der Offenbarung) des Wesens des Menschen und dieses Wesen selber. Denker wie Avicenna und Mullah Sadra erkannten das im ‹Ayat an-Nur›, dem Lichtvers des Koran (Sure 24:35), in dem der Ausdruck verwendet wird ‹nur’ala nur›, ‹Licht über Licht›. Für Yazdi bedeutete dies: ‹Anwesenheit, Präsenz›. Ein modernes Beispiel, wie Erkenntnis und Religion sich mit einander verweben können.


Dieser Artikel erschien zuerst in ‹Stil – Goetheanismus in Kunst und Wissenschaft›, Johanni 2023, 45. Jahrgang, Heft 2. Hier mit freundlicher Genehmigung der ‹Stil›-Redaktion wieder abgedruckt.

Titelbild Shihāb ad-Dīn Yahya ibn Habash ibn Amirak as-Suhrawardī, Hikmat Al-Ishraq kopiert von Shams Bin Jamal Al-Hatani, Post-Seljuq Iran. Datiert: Dienstag 13. Oktober 1220 n. Chr. Abhandlung über Theosophie, arabische Handschrift auf Papier.

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Footnotes

  1. Vgl. hierzu: Mehdi Hairi Yazdi, The Principles in Islamic Epistemology. Knowledge by Presence. State University of New York, 1991, S. 71 ff.
  2. Ebd. S. 81.

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