Vier Wochen vor dem 100. Todestag von Rudolf Steiner lud die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland dazu ein, sich über den Dank an Rudolf Steiner und über die Perspektiven aus seinen Inspirationen auszutauschen.
Die Zahl der Teilnehmenden war begrenzt, damit, wie Monika Elbert es formulierte, man persönlich sprechen und persönlich nach innen schauen könne. Bei allen Erfolgen sei es kein einfaches Erbe, das man jetzt in die Zukunft trage. Gerhard Stocker wünschte den Anwesenden ein Fest der Begegnung. Dann kam das erste Gesprächstrio auf die Bühne mit dem Blick zurück und voraus: Martina Maria Sam und Wolfgang Müller, die beide über Rudolf Steiner geschrieben haben, und Philip Kovce, neuer Leiter des Rudolf Steiner Archivs. Kovce begann und schilderte drei Anknüpfungen zu Rudolf Steiner: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Mit Waldorfkindergarten und -schule prägte Rudolf Steiner über die Lehrerinnen und Lehrer schon das Leben von Philip Kovce. Zu Rudolf Steiners 150. Geburtstag 2011 wurde er mit zwei anderen interviewt. Auf die Frage, wie man dessen Impulse zusammenfassen könne, sagte Kovce, Rudolf Steiner sei ein guter Arbeitgeber, weil er mit einem gewaltigen Werk viele Aufgaben hinterlassen habe. Dass er nun als Archivleiter im besten Sinne Arbeitnehmer von Rudolf Steiner sei, zeige die Ironie des Schicksals. Er verdanke Steiner, dass er als jemand, der sich heute mit ihm beschäftigt, von anderen Zeitgenossen so wahrgenommen werde, als sei irgendwas nicht ganz in Ordnung. Für den Blick in die Zukunft zitierte er Helmut Kohls Ausdruck der ‹Gnade der späten Geburt›: Er wisse es zu schätzen, dass aus der historischen und geistigen Distanz ein freies Verhältnis aus eigener Initiative und Kraft möglich sei, wo jeder seinen eigenen Weg gehe.
Der Zug zum Wesentlichen
Dann sprach Martina Sam und erzählte über eine frühe Erfahrung mit Anthroposophie: Studium in Witten-Annen, Musikgeschichte: «Der Unterricht von Jürgen Schriefer wurde für mich zu einer Offenbarung. Denn dieser Unterricht wurde so gegeben, dass die Musikgeschichte eine Art Okular für die Entwicklung der Menschheit war. Ich habe viel über den Menschen erfahren, obwohl Musikgeschichte auf dem Stundenplan stand. Ich habe dadurch gleich zu Beginn meiner Bekanntschaft mit der Anthroposophie das für mich Wesentliche der Anthroposophie erfahren, nämlich dass Sophia davon spricht, dass alles in der Welt, alle Geschichtsepochen, alle Mythen und Völker und Kulturen, Sterne und Planeten, Tiere und Pflanzen, einfach alles mit mir in Beziehung steht. Alles ist auf den Menschen hin geordnet. Dadurch entstanden so viele neue Zusammenhänge. Ich bekam eine neue Einsicht in die Welt. Das hat mich begeistert, und diese Begeisterung hält bis heute an.» Dann sprach Martina Sam darüber, was man mit dieser spirituellen Weltsicht verliere: das urteilende Denken. «Mein Denken verlangsamt sich. Es wird auch umfassender und mitreißender und es wird immer mehr dazu geeignet, Bezüge zu sehen. Was ich der Anthroposophie verdanke, ist eine innere Gewissheit, dass ich mich so ausbilden kann, mein Herz so ausbilden kann, dass es Wahrheit empfinden kann. Dass das Herz ein Wahrheitsorgan wird. Das hat mich zu der bewegendsten Erfahrung geführt, dass dies möglich ist. Man steht in dem, was man darin erfährt, und ist einsam. Es sind keine Wahrheiten, die man weitergeben kann, denn diese Art von Wahrheit muss jeder Mensch selbst erfahren.» Dann schildert sie einen großartigen Gedanken: Das Besondere an der Anthroposophie sei, dass Rudolf Steiner zugleich den ‹Quellgrund› mitgegeben habe, sodass man es sich selbst erarbeiten könne.
Wolfgang Müller beschrieb, dass es bei ihm die «schlichte Begegnung mit bedeutenden Einsichten gewesen» sei, die ihn zur Anthroposophie geführt habe, ein «einzigartiges Leseerlebnis», ein fortwährender Zug in die Einheit, eine Einheit, die sich in jedem einzelnen Menschen zeige. Berührend war, als Müller beschrieb, dass ihm die Anthroposophie Freundschaften schenke, die vielschichtiger und tiefer seien als die übrigen.
Auf die Rückfrage von Monika Elbert, wie es denn mit der Freundschaft zu Rudolf Steiner beschaffen sei, antwortete Philip Kovce, dass Freundschaft leicht Abhängigkeit bedeuten könne. Nach dem Gespräch folgte wie überhaupt während der zwei Tage ein musikalisch-eurythmischer Dialog. Einfache Töne wechselten zwischen Bratsche (Johanna Lamprecht) und Trompete (Christian Ahrens) mit Eurythmie (Katharina Okamura), hier innerlich, da äußerlich, hier empfangend, da sendend, und zeigten so, was jede Seele üben kann.
Perspektive und Beistand
Am Abend dann das eigentliche Fest für Rudolf Steiner. Zuerst erzählte jemand von seinem Schicksalsweg zur Anthroposophie. Er habe sich als Student nach Menschen gesehnt, zu denen er aufschauen könne. Dann sei er durch die Eifel gewandert und da habe ihn sein Schicksal gerufen: «Geh dahin, wo der Roggen angebaut wird!» Das habe ihn auf einen Demeter-Hof geführt, wo er beim Heumachen geholfen habe. Am nächsten Morgen habe man ihn in die Menschenweihehandlung mitgenommen und dann habe er eine Eurythmistin kennengelernt, die noch mit Marie Steiner gearbeitet hatte. Am gleichen Tag lernte er Sprachgestaltung kennen und am nächsten Morgen wurde der Landwirtschaftliche Kurs gelesen. Das sei vor 50 Jahren sein erstes anthroposophisches Wochenende gewesen. In die nachfolgende Stille sprach eine Frau und erzählte, wie in ihrer Gemeinschaft zwei Kinder gestorben waren und welche Bedeutung dann Anthroposophie habe. Dann berichtete Alexander Schaumann von Christian Hitsch, zu dem Gerard Wagner mit 90 Jahren gesagt habe, dass er für seine Malstudien noch 60 Jahre brauche. Und die Ärztin Ingrid Küstermann habe ihm erzählt, dass sie wöchentlich im Ärztekreis die medizinischen Vorträge besprachen. «Da brauchen wir noch Jahrhunderte, um das zu verstehen», habe sie gesagt. Das könne man, so Schaumann, als ‹Überforderung› bezeichnen. Er nenne es Perspektiven, die Rudolf Steiner schenke. Es wurde still, als Enno Schmidt von Rudolf Steiner als ‹Freund› berichtete. Sein jüngerer Sohn ist unerwartet mit 22 Jahren gestorben. Da war Rudolf Steiner ein großer, lieber Freund. Es war nicht das Geschriebene, sondern es war darin so sehr eine Anwesenheit einer Kraft, eines großen, lieben Freundes.
Am nächsten Morgen folgte ein Blumenstrauß an kurzen Beiträgen für Rudolf Steiner. Das war ein besonders fruchtbares Format. Man müsse aufpassen, als Anthroposophen keinen Parallelkosmos aufzubauen. Wenn im Elternhaus von ‹Gesellschaft› die Rede war, war nicht klar, ist die menschliche oder die Anthroposophische gemeint. Dann hieß es: «Rudolf Steiner ist mein Guru – jedenfalls immer dann, wenn ich nicht ganz ich selbst bin. Dann falle ich in so Muster.» Und später fragte jemand: «Wie finden wir die eigene Sprache?»
Das Treffen endete ohne Verabredungen, es endete mit dem dankbaren Gefühl gegenüber Rudolf Steiner und dem dankbaren Gefühl gegenüber vertrauensvollen Gemeinschaften wie derjenigen, die an dem Wochenende in Stuttgart entstanden ist.
Bild Martina Maria Sam und Wolfgang Müller, Foto: Wolfgang Held