Begegnungen unter dem ‹Tor zur Welt›

Ein denkwürdiges Jubiläum

Seit 25 Jahren arbeitet Ilse Wellershoff-Schuur mit arabischen und jüdischen Partnerinnen und Partnern aus Galiläa, um eine Begegnungsstätte für alle Kulturen der Region zu schaffen. Über die Jahre sind im Wald, an der Grenze zur anthroposophischen Dorfgemeinschaft Harduf ein Lebens- und Lernort für Freiwillige, Seminaristinnen und Seminaristen, eine Waldtheaterbühne, ein Garten und ein überkonfessioneller Andachtsort gewachsen. Am 13. Oktober war das Jubiläumsfest in Oldenburg angesetzt, doch nun überschattet von Gewalt und Krieg.


Alles war ganz anders als erwartet und so anders als damals. Nicht nur, weil etwas gewachsen ist in den 25 Jahren des Bestehens des Vereins Tor zur Welt – Sha’ar laOlam – Bab le’alAlem. Nicht nur, weil wir älter geworden sind, nicht nur, weil die Orte sich physisch verändert haben. In Galiläa wächst ein Ort heran, wie wir ihn damals in unseren Visionen bewegten, aber auch dieser wurde ganz anders! Und in Oldenburg, wo wir uns trafen, weil es ein Ursprungsort der Initiative war, tagten wir in ganz anderen Räumen, nicht in einer Wohnzimmerkirche wie damals der kleine Jugendkreis, sondern in einem hellen Kirchengebäude, einem neu entstandenen ‹Kulturgebiet›.

Das Jubiläumstreffen war anders als geplant, vor allem weil merkwürdig gleichzeitig eine neue Zeit anbrach mit einer so erschütterten Stimmung, wie wir sie in den 25 Jahren Leben mit dem Nahostkonflikt nie erlebt hatten. Der Krieg war noch keine Woche alt, als wir zusammenkamen. Der erschütternde Terroranschlag, die tiefe Verunsicherung, die persönlichen Sorgen und Verluste, betrafen alle Teilnehmenden aus Israel. Frage: Dürfen wir trotzdem feiern? Und wenn ja, wie?

In frühen Tagen, vor der Baugenehmigung und den ersten festen Gebäuden, Jugendlager, Foto: Ilse Wellershoff-Schuur

Da waren wir nun, am Freitag, den 13. Oktober, getreu unserem über ein Jahr zuvor getroffenen Vorsatz, versammelt in Norddeutschland. Und wundersamerweise waren viele gekommen. Und noch denkwürdiger: Trotz der besonderen Situation kam etwa ein Viertel der knapp 50 Teilnehmenden aus Galiläa – die Mitbegründer und -begründerinnen Yaakov und Miriam Arnan sowie Amin Sawa’ed mit seiner Frau Fatma, Mitglieder des damaligen Jugendkreises, die heute Mittvierziger sind. Dazu eine Auswahl der Schauspielenden des Hamila-Theaters, das vom selben Trägerverein betrieben wird wie die Begegnungsstätte Sha’ar laAdam – Bab l’ilInsan. Ehemalige Jugendcampteilnehmende aus verschiedenen Phasen der Bewegung, die die Arbeit weitergetragen haben durch all die Jahre, der Vorstand des Vereins, aktive Mitglieder, Förderer, Förderinnen und zehn ehemalige Freiwilligendienstleistende aus den letzten Jahren, von den Freunden der Erziehungskunst und der jüdischen Entsendeorganisation. Dazu einige Kinder und Kindeskinder. Im Schnitt insgesamt doch eher junge Leute. Jemand sagte: «Wir sind eine Familie, nein, viel mehr als eine Familie. Die Begegnungsstätte Sha’ar laAdam – Bab l’illnsan ist eine neue Kultur der menschheitlichen Gemeinsamkeit.»

Die Aufführung des dramatisch-lyrischen Ereignisses ‹Jerusalem im Weben von Schatten und Licht› war ein Geschenk, entstanden aus der Einladung an das Hamila-Theater zur Weltkonferenz am Goetheanum zu Michaeli, zwei Wochen vor dem Jubiläum. Nun wird das Stück eine Deutung der Menschheitssituation, auch ein wenig Selbsttherapie für die Akteure und Akteurinnen, die auf ihrer Tournee von Dornach kommend nach Aufführungen in Basel, Freiburg und Überlingen in Frankfurt von den Ereignissen im Heimatland kalt erwischt wurden. Sofort waren für die meisten Bezüge zu konkreten Menschen da, zu Opfern, die man kannte, Sorgen um Angehörige und Freundinnen, Freunde, von denen keiner wusste, was ihnen geschehen war, weil alles unklar war und teilweise heute noch ist. Wer ist überhaupt noch am Leben von denen, über die man nichts mehr hört? Die Sorge um die Menschen zu Hause, die daheimgebliebenen Angehörigen, die Rückreisemöglichkeiten am Ende der Tournee, sie waren immer dabei, überschatteten eine unbeschwerte Feier, führten die Gefühle und Gedanken in die Tiefe. Kann man so überhaupt Theater spielen? Oder ist es so, wie einer der Beteiligten sagte: «Da kann man nur noch Theater spielen, wenn man nicht verrückt werden will!» Yeats’ Stück zur Auferstehung, eine Szene aus Solowjows ‹Antichrist›, etwas aus Christopher Frys ‹A Sleep of Prisoners›: «The human heart can go the lengths of God …», eingerahmt von hebräischen Gedichten von Iftach Ben Aharon – ein modernes Mysterienspiel. Dazu die geniale Musik, insbesondere das auf Arabisch gesungene erste Gedicht zu Jerusalem.

Kurz vorher hatte in der Begegnungsstätte im Heiligen Land zu Michaeli, zum Laubhüttenfest und auch zum Geburtstag des Propheten Mohammed eine Friedensübungswoche mit lokalen und aus Deutschland angereisten Teilnehmenden stattgefunden. ‹Mi-ChaEl – Wer ist wie Gott?› Das Thema Menschsein – Menschwerden hatte uns beschäftigt, die Frage, was der Mensch tun kann, um wirklich Mensch zu werden, Fragen nach der Resilienz, den Nebenübungen, dem Gebet aus dem Beichtsakrament der Christengemeinschaft. «Thank God our time is now, when wrong comes up to meet us everywhere, […]». Heute kommt immer alles anders, wie halten wir das aus?

Waldgestaltung, ca. 2006, Foto: Ilse Wellershoff-Schuur

Einige Menschen an dem Jubiläumswochenende waren erst ein paar Tage vor dem Terroranschlag aus Israel gekommen bzw. zurückgekehrt. Einige Mitreisende waren aber auch im Land geblieben, um ein Praktikum oder Urlaub zu machen. Sie waren nun davon betroffen, dass Flüge storniert wurden, die Heimreise infrage stand. Im Hintergrund liefen ständig die Hilfestellungen, die Nachfragen ihrer Angehörigen, während umgekehrt auch die Israelis neue Wege nach Hause suchten. Über Frankfurt, Amsterdam, Berlin? Oder doch erst nach Großbritannien? Oder über Amman? Die daheimgebliebenen Angehörigen protestierten, in Ägypten waren gerade zwei israelische Touristen ermordet worden in der Folge der Ereignisse. Es hagelte Angebote. Überall wäre man willkommen, wollte man denn länger bleiben. Aber alle wollten in dieser Lage doch lieber zu Hause sein. Auch für die Deutschen in Israel gab es zahlreiche Hilfsangebote, aber auch sie wollten nach Hause oder in ein anderes Praktikumsland.

Im Laufe der Jahre ist etwas gewachsen, das uns verbindet, und im Laufe des Wochenendes belebte sich diese Verbindung auch zwischen Menschen, die sich vorher noch nicht gekannt hatten, denn wir waren ja nicht alle gleichzeitig in Sha’ar laAdam – Bab l’illnsan. Der Vereinsname ist so wahr – der deutsche: ‹Tor zur Welt›, denn wir werden immer mehr Weltenbürger und -bürgerinnen, schauen über das hinaus, was uns im Kleinen, in den Gruppenzugehörigkeiten, fesselt. Aber auch der arabisch-hebräische Name, der ‹Tor zum Menschen› bedeutet, zum Menschsein, zum Menschwerden. Der Mensch ist der Schlüssel. Wie es in der Gedenkstunde am Samstagmorgen jemand aussprach: «Wir dürfen nie vergessen, dass in jedem Menschen, auch dem grausamsten Terroristen oder dem Befehle ausführenden Fußsoldaten, auch im General und im Politiker, ein Mensch steckt und damit ein Funke Gottebenbildlichkeit, der das Individuum trägt.» Insofern sind wir verwandter als Verwandte, alle Kinder einer schöpferischen Idee, auch wenn wir es verdrängen, vergessen, verleugnen. In der Gedenkstunde wird auch sonst Bemerkenswertes gesagt. Was hat der Einzelnen, dem Einzelnen die Begegnung mit diesem besonderen Ort bedeutet? Eindrücklich waren der Bericht eines Islamwissenschaftlers, der über die Veränderungen der politischen Lage in den letzten 25 Jahren berichtete, sowie das sehr persönliche Statement eines unserer Mitglieder der ersten Stunde, das die aktuelle Lage als Diplomat und Mitglied des Krisenstabs im Auswärtigen Amt verfolgt. Auch viele andere erzählen davon, wie ihr beruflicher und privater Weg beeinflusst wurde von der Idee, dass wir alle Verantwortung tragen, dass wir etwas tun können, dass unser Einsatz nie egal ist, ob als Künstlerin, Lehrer, Aktivistin …

Gerade weil alles anders kommt in unseren Zeiten. «Affairs are now soul-size. The enterprise is exploration into God.» (Christopher Fry)


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Titelbild Mit den jungen Freiwilligen sowie Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft während der Friedensübungswoche 2023. Foto: Ilse Wellershoff-Schuur.

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