Autoritär oder souverän?

Das Wesentliche der Präsidentschafts­wahlen in Amerika zu verstehen, gleicht einem Zuschauersport mit Untertönen und Spaltungen. Betrachtet man sie als konventionelles Moraldrama, dann widersprach die Wahl all unseren Normen.


Das Ergebnis der US-Wahl hat der Welt vor Augen geführt, welche motivierende Kraft der Unmut hat, wenn er für politische und kulturelle Zwecke verwertet wird. Der Kriminelle als Held, das Opfer als Märtyrer, der große Unruhestifter, der in vielen den verborgenen Wunsch berührt, die empfundene Unterdrückung zu überwinden. Er tritt für sie ein und wird dafür gewählt.

Wenn man den Menschen immer wieder sagt, dass sie in einer bösen Welt isoliert und ungeschützt sind, werden sie die Welt als eine Bedrohung ihrer Souveränität, ja sogar ihrer Würde ansehen, obwohl das Gegenteil bewiesen ist. Diese sorgfältig gesteuerte Manipulation führt zu einem Gefühl der Trennung vom Rest der Welt und stellt auch das Wesen und den Wirkraum der Autorität infrage. Wenn die Wirtschaft mich schlecht behandelt – zum Beispiel durch die Folgen der Inflation – oder ich einfach nur den Eindruck habe, dass das so ist, kann die innere Dissonanz ein Gefühl der Misshandlung, des Ausgeschlossenseins und der Wut erzeugen. Das bedeutet Entmachtung, verbunden mit einer Opferkultur und der Fundamentierung von Groll und Beschwerde. Diese Bedingungen begünstigen die Sehnsucht nach einer externen Autorität, die die Sache in Ordnung bringt. Der Groll macht es auch möglich und attraktiv, die Idee der Abschaffung des Staates voranzutreiben, ohne eine Vorstellung davon zu haben, was an seine Stelle treten soll. Der Ersatz spielt keine Rolle, denn der Schwerpunkt liegt auf dem Gefühl des Einzelnen, sich zu beschweren, und den damit verbundenen Emotionen.

Groll, Beleidigung, Verletzungen und Isolation, die im Laufe der Zeit sorgfältig genährt wurden, zapfen die tiefen Quellen der Angst, des Zweifels und des Hasses an. Diese Zustände zu fördern, wird zu einer eigenständigen Kampagne: 1. Angst, dass jemand dein Wohlbefinden weiter untergräbt und weiterhin auf dich herabschaut und deine Menschlichkeit leugnet. 2. Zweifel, dass du in irgendetwas vertrauen kannst, was diese ‹anderen› sagen, denn sie belügen dich oder kümmern sich nicht um dich, oder sind aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Ethnie fehlerhaft und als feindliche Einwanderer unbegrenzt ins Land gelassen worden. 3. Dann der kulminierende Hass, der aus Angst und Zweifel resultiert. Alles, was nicht zum eigenen Glaubenssystem gehört, ist eine Bedrohung, und man beginnt, den Feind zu hassen – selbst den imaginären Feind im Inneren. Inflation (die wirtschaftliche Bedrohung) und Einwanderung (die Angst um meine Sicherheit und der Hass auf die anderen) erzeugen zusammen eine Art kollektive Wunde, die die Anhänger zu einer Glaubensgemeinschaft, zu einem Clan zusammenschweißt. Und natürlich brauchen alle diese Zustände den großen Retter. Dieser kalkulierte Prozess beschreibt eine Perversion der zentralen inneren Arbeit, die darin besteht, Angst, Zweifel und Hass auf dem Weg der spirituellen Suche zu unterdrücken, hin zu bösen Zielen.

Antikraft

Ich frage mich, ob ich jemandem meine Souveränität überlassen würde, wenn ich überzeugt wäre, er könne meine Ängste, Zweifel und meinen Hass auf bequeme Weise lindern. Wenn ich das täte, würde ich meine Handlungsfähigkeit, meine spirituelle Freiheit aufgeben, jenes, was für die Weiterentwicklung der Bewusstseinsseele wesentlich ist. Der oder die Autoritäre vertritt eine Kraft, die das Bewusstsein verzögert und kontrolliert, selbst wenn er oder sie sich seinen Weg zur Macht aneignet, ergreift oder manipuliert. Was durch die Konzentration statt durch Verteilung von Macht erreicht wird, ist die Beseitigung der individuellen Initiative und der selbst generierten Autorität, die Souveränität bedeuten.

Effektiv entmenschlichend

Es gibt viele manipulative Techniken, die für einen solchen Machterwerb eingesetzt werden: Sprache, Steuerung von Emotionen, künstliche Intelligenz, soziale Medien und öffentlich verbreitete Lügen beziehungsweise aus dem Zusammenhang gerissene Halbwahrheiten. Ein ausgeklügeltes Marketing umfasst altbewährte Propagandamittel. Ausgerichtet auf die antisozialen und bewusstseinsfeindlichen Ziele von Macht und Kontrolle sind sie effektiv entmenschlichend. Unsere Kultur, also der Beziehungsozean, in dem wir alle schwimmen, ist so durchsetzt von der Show, dem aufmerksamkeitserregenden und süchtig machenden Spektakel immer tieferer Beleidigungen, Anfeindungen und Hässlichkeiten, dass es giftig wird. Einer meiner Söhne sagte: «Die ‹Miss-Informationsmaschine› ist wahnsinnig. Sie ist jetzt sogar viel größer als ein einzelner Mann.» Infolgedessen ist niemand vor dieser Giftigkeit und ihrer radioaktiven Halbwertszeit gefeit. Sie wurde ‹felderprobt› und wird nicht verschwinden, solange die Verflechtung von Macht und Geld und die fortgesetzte ‹Entgeistigung› des Alltagslebens unangefochten bleiben.

Brot und Spiele

Das Spektakel wird nun mit offensichtlicher Unterstützung der Bevölkerung fortgesetzt. Keine Zeit für Erschöpfung. Besser wäre es, sich darauf zu konzentrieren und zu fokussieren, die innere Autorität mit- und füreinander zu stärken, Vertrauen zu kultivieren und die Bedeutung der Wahrheit als Weg zur spirituellen Freiheit hervorzuheben. Wir könnten Angst, Zweifel und Hass so umwandeln, dass sie weder innerlich noch gesellschaftlich herrschen, sondern den Genius der Individualität und die Wärme des sozialen Lebens erkennen und anerkennen. Diese Überlegungen sind zwar ein Post mortem des US-Wahlkampfs und der Präsidentschaftswahlen, aber es gibt jetzt auch keine Möglichkeit, sich friedlich auszuruhen. Die Arbeit besteht darin, für eine Gemeinschaft im weitesten und umfassendsten Sinne des Begriffs zu erwachen und Versöhnlichkeit zu üben, und sich zugleich um die Wahrheit zu kümmern. Sieht so die Evolution der Bewusstseinsseele im politischen Leben aus?


Übersetzung aus dem Englischen von Gilda Bartel
Bild Ella Lapoint, Election 2024

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