Architektur und Anthroposophie

Seit 100 Jahren ist die Anthroposophie auch in Norwegen wirksam. Aus diesem Anlass gibt die Anthroposophische Gesellschaft Norwegen im Herbst 2025 ein Buch heraus. Es enthält ein Kapitel über das Leben und Wirken des seit 50 Jahren tätigen anthroposophischen Architekten Espen Tharaldsen. In einem Auszug daraus schildert er, wie Architektur und Anthroposophie zusammenhängen.


Seit Rudolf Steiner zu Beginn des Jahrhunderts als Anthroposoph tätig wurde und bis er 1925 auf dem Krankenbett lag und das Zweite Goetheanum skizzierte, hielt er immer wieder Vorträge über Architektur, erstellte Modelle und verwirklichte Bauvorhaben. Warum hat sich Rudolf Steiner so viel mit Architektur befasst? Einen Erklärungsansatz finden wir in der Grundsteinlegung seines ersten Gebäudes im Dorf Malsch in Deutschland 1909. Es handelte sich um einen kleinen unterirdischen Tempel mit Kuppelgewölbe, Säulen und Symbolen. In einer Urkunde, die in die Erde gesenkt wurde, hatte Steiner zwei Dreiecke gezeichnet, die einander durchdrangen, eins mit der Spitze nach oben, das andere mit der Spitze nach unten. Derart repräsentierten sie die Rosenkreuzer-Einsicht: ‹Oben alles wie unten, unten alles wie oben›. Oben bezeichnet hier das Geistige, Spirituelle, unten das Physische und die Materie. In der Anthroposophie geht es nicht nur um innere Schulung, sondern sie sucht ihr Gegenstück in äußerer Praxis. Das Innere und das Äußere spiegeln einander und sind eigentlich eins: ‹Wie im Inneren, so im Äußeren› (Titelbild).

Während der Grundsteinzeremonie hielt Steiner eine kleine Ansprache: «Unter Schmerzen hat unsere Mutter Erde sich verfestigt. Unsere Mission ist es, sie wieder zu vergeistigen, zu erlösen, indem wir sie durch die Kraft unserer Hände umarbeiten zu einem geisterfüllten Kunstwerk. Möge dieser Stein zugleich ein erster Grundstein zur Erlösung und Umwandelung unseres Erdenplaneten sein und möge die Kraft dieses Steines sich vertausendfältigen.» (Rudolf Steiner, Bilder okkulter Siegel und Säulen, GA 284) Der fast biblische Sprachgebrauch enthält einen zentralen Punkt des anthroposophischen Projekts. Und auch wenn die Spiegelung in diesem Fall als Tempel in Erscheinung tritt, erforscht Steiner nun in den Jahren bis zu seinem Tod 1925 die Korrespondenz zwischen dem ‹Oben› und ‹Unten› auf ständig neue Weise, immer offener und freier.

Erstes und Zweites Goetheanum

Bereits sein architektonisches Hauptwerk, das Erste Goetheanum (1913–1922), ist nicht mehr ein vergrabener Tempel für einen kleinen, geschlossenen Kreis, sondern zeigt sich als öffentliches Monumentalgebäude. Gleichwohl war es für Besucher und Besucherinnen von draußen eine geschlossene Welt, denn das gesamte Gebäude war eine bildmäßige Darstellung des anthroposophischen Schulungswegs. Die Ikonografie ließ sich ohne eingehende Erklärung nicht verstehen, wenngleich der Anblick in vieler Hinsicht beeindruckend war. Mit dem Zweiten Goetheanum (1925) öffnet sich das Gebäude gänzlich der Welt. Ein Leitwert ist heute, ein anthroposophisches Forschungszentrum zu sein und in ebenso großer Ausdehnung als öffentliches Kulturzentrum zu dienen. Während das Erste Goetheanum im Wesentlichen einen einzigen großen Saal enthielt, in dem lediglich anthroposophisches Theater gezeigt und Vorträge vor Anthroposophinnen und Anthroposophen gehalten werden konnten, enthält das Zweite Goetheanum alles, was eine spirituelle Hochschule und ein öffentliches Kulturgebäude benötigen. Neben künstlerischen Ateliers und Werkstätten, Vorlesungs- und Verwaltungsräumen, einer Reihe von Foyers mit Bibliothek, Buchhandlung und Cafeteria gab es auch zwei Theatersäle. Die Umstände nach dem Ersten Weltkrieg erforderten, dass die Anthroposophie nicht nur etwas sein sollte, was man für sich selbst studiert oder übt. Sie sollte nun auch in der Praxis wirksam werden: wissenschaftlich, künstlerisch und sozial.

Das Zweite Goetheanum. Fertiggestellt 1928. Foto: Sofia Lismont, 2024

Fortführen

Diese Verwandlung führte dazu, dass Aktivitäten begannen, die vom Zentrum in der Schweiz Knospen über die ganze Welt trieben, Tätigkeiten, die zusammen die globale Reformbewegung bildeten, wie wir sie heute kennen. Diese Bewegung gründet sich auf eine anthroposophische Anthropologie und folgt in diesem Sinn nach wie vor der Vision der zwei Prinzipien, wie sie im Grundstein von Malsch zum Ausdruck kam – ob sie sich nun in sozialpolitischen Ideen, in Pädagogik, Medizin oder Landwirtschaft entfaltet. Stets geht es darum, die zwei Seiten zu vereinen und sich nicht allein mit dem Spirituellen oder der Praxis zu befassen. Vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, warum die Architektur einen derart zentralen Platz innerhalb der Anthroposophie einnimmt. Denn jede dieser Reformbewegungen ist ihrerseits in gewisser Weise ebenfalls ‹Architektur›, allerdings in einem Sinn, der wenig mit einer Ästhetik der Kunstgeschichte zu tun hat. Hier geht es um ein Verständnis für die Erde als Kunstwerk, bei dem die Dreiecke überall und auf allen Ebenen einander durchdringen.

Heute gibt es in der Welt Tendenzen zu einer derartigen globalen ‹Kunstauffassung›, und sie ist – wenn auch zweischneidig – dabei, verwirklicht zu werden. Wir nennen sie das Anthropozän. Dieses Anthropozän ist sich aber im Vergleich zu Steiners Impuls nicht allzu bewusst, dass es sich um dieses Ineinanderspielen von oben und unten handelt. Um dieses Bewusstsein zu kultivieren, bemüht sich die Anthroposophie, die gebaute Architektur kann es besonders klar darstellen.


Übersetzung Jürgen Vater
Titelbild Interieur des Modells in Malsch. Gebaut nach Anweisungen Rudolf Steiners 1908–09. Quelle: Anthrowiki

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