‹Seelenbeben› lautet der Titel des jüngst erschienenen ‹Handbuchs zur Bewältigung seelischer Krisen› von Markus Treichler.
Schon der Titel deutet auf die Bedeutung von Krisen innerhalb des menschlichen (Seelen)lebens hin: Nur ein Buchstabe trennt das Seelenbeben vom Seelenleben. Das Beben wird hier als Erschütterung und zugleich als Ausdruck seelischer Lebendigkeit aufgefasst. Ein gewaltiges Bild, das zum Nachdenken anregt. Das Buch, das auf der anthroposophischen Geistesforschung, Menschenkunde und insbesondere der anthroposophischen Seelenkunde basiert und durch Bezüge zu Vertretern unterschiedlicher geistesgeschichtlicher Strömungen – etwa Jaspers, Goethe oder Aristoteles – ergänzt wird, ist sowohl chronologisch lesbar als auch als Nachschlagewerk nutzbar. Damit wird es seinem Anspruch als Handbuch gerecht. Jedes Unterkapitel bildet eine in sich geschlossene Einheit und folgt einem klaren Aufbau. Das Inhaltsverzeichnis schafft eine gut strukturierte Übersicht über die unterschiedlichen Formen seelischer Krisen – von Beziehungs- und biografischen bis hin zu schöpferischen und spirituellen Krisen. Durch diese klare Gliederung kann sich der Leser oder die Leserin rasch orientieren und die Vielseitigkeit seelischer Krisen leichter erfassen und einordnen.
Markus Treichler nähert sich dem Phänomen der Krise mit bemerkenswerter interpretatorischer Zurückhaltung. Er beschreibt zunächst die Symptome und Erscheinungsformen der jeweiligen Krisenformen, bevor er im zweiten Schritt mögliche Wege der Bewältigung aufzeigt. Diese Struktur spiegelt die Dynamik eines Krisenverlaufs wider: Aus Erschütterung und Erkenntnis heraus kann Entwicklung geschehen. Der Autor vermeidet dabei Ratschläge oder psychologische Rezepte. Vielmehr regt er die Lesenden dazu an, sich mit der Bedeutung seelischer Krisen, ihrer Vielseitigkeit, Vielgestaltigkeit und ihrem Entwicklungspotenzial vertraut zu machen. Hierbei greift er immer wieder auf Zeugnisse und Werke berühmter Künstler, Dichterinnen und Schriftsteller, aber auch auf Erfahrungen mit eigenen Patientinnen zurück. Diese verdichten und untermauern seine Ausführungen und verleihen ihnen lebendige Anschaulichkeit. So gelingt Treichler, was kein leichtes Unterfangen ist: Seine Darlegungen werden der Lebendigkeit seelischer Krisen gerecht, ohne dabei an Klarheit und Kohärenz einzubüßen.
Zu dieser Lebendigkeit tragen auch die ‹Wahrbilder› bei, die Treichler heranzieht, um seelische Prozesse zu verdeutlichen – etwa das Bild des ruhigen Flussstroms, der unterbrochen wird und als Wasserfall in die Tiefe stürzt, bevor er wieder in ruhigeren Bahnen weiterfließt und so die Dynamik einer Krise veranschaulicht, oder das Mosaik, das als eine Art Wahrbild der Biografie zeigt, wie der Mensch aus der Vielzahl einzelner Erfahrungen ein zusammenhängendes Lebensbild erzeugt. Diese Bilder werden die Lesenden so schnell nicht vergessen. Hier wird die bildschöpferische Tätigkeit der Seele, die dem Menschen auch in der Bewältigung von Krisen heilsam zugutekommt, angeregt.
Dadurch, dass Treichler ‹Krankheitskrisen› als eine von verschiedenen Krisenformen beschreibt, wird dem im Buch enthaltenen Ausgangspunkt, dass Krisen zum Leben gehören und nicht notwendigerweise pathologische Vorgänge sind, Nachdruck verliehen. Die grundsätzliche Bedeutung von Krisen wird dabei auch für seelische Krankheitsbilder hervorgehoben, die im Unterkapitel ‹Krankheitskrisen› behandelt werden. Im Gegensatz zum heutigen Störungsbegriff, der eine Störung und die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands nahelegt, deutet der hier verwendete Krankheits- und Krisenbegriff darauf hin, dass Erkrankungen Entwicklungsgelegenheiten bieten. Diese Sichtweise steht im Gegensatz zum gegenwärtigen klinischen Zeitgeist und dem darin vorherrschenden reduktiven Materialismus, in dem Fragen nach den Entwicklungs- und Gestaltungsmöglichkeiten des Ich zunehmend verdrängt werden. Die Beschreibung der Krankheitskrisen ist in ihrer fachlichen Präzision für Klinikpersonal geeignet, gleichzeitig aber so verständlich, dass auch Laien sie nachvollziehen können. Angehörige, Eltern, Lehrerinnen und Lehrer und auch Betroffene können so gezielt nachschlagen. Insbesondere für Menschen außerhalb des klinischen Bereichs, aber auch für Klinikpersonal, das gewohnt sein könnte, primär auf Symptome und Defizite zu achten, bietet das Unterkapitel zu Krankheitskrisen die Möglichkeit, diese nicht nur als Störung, sondern auch unter dem Gesichtspunkt ihres potenziellen Entwicklungsbezugs zu sehen. Auf diese Weise kann sich ein grundlegendes Verständnis der jeweiligen Krankheitskrise entwickeln, das zugleich eine Haltung zulässt, die von einem Vertrauen in die Wachstums- und Entwicklungsmöglichkeiten des Ich getragen ist.

Im abschließenden Kapitel ‹Bewältigung, Therapie und Sinn von Krisen› thematisiert Treichler den in jedem Krisengeschehen innewohnenden Sinnbezug. Hier wird noch einmal deutlich, dass Krisen nicht nur Schmerz und Erschütterung beinhalten, sondern die Gelegenheit zum Innehalten und Neuausrichten bieten. Indem Treichler die verschiedenen, vielgestaltigen Krisen beschreibt und Wege der Bewältigung aufzeigt, leistet er einen wichtigen Beitrag zur Einordnung und Bewältigung seelischer Krisen. Das Buch lässt das unerschöpfliche Potenzial des menschlichen Ich aufleuchten und verdeutlicht, dass Krisen ein natürlicher und wesentlicher Bestandteil des Lebens sind und ihre sinnstiftende Bewältigung zugleich Zeugnis unserer ureigenen Ich-Wesenheit ablegt.
Buch Markus Treichler: Seelenbeben – Ein Handbuch zur Bewältigung seelischer Krisen. Salumed-Verlag, Berlin 2024








