Johannes Kronenberg forscht und engagiert sich seit sieben Jahren für nachhaltige Entwicklung und ihre geistige anthroposophische Erweiterung. Jetzt baut er dafür ein Arbeitsfeld in der Sektion für Landwirtschaft auf. Im Gespräch mit Wolfgang Held.
Was meinen wir mit Nachhaltigkeit?
Nachhaltigkeit oder nachhaltige Entwicklung ist ein junges Fachgebiet, das die letzten 40 bis 50 Jahre weltweit institutionalisiert wurde. Anfangs meinte es, die ‹Ressourcen› so zu nutzen, dass die natürliche Regeneration gewahrt bleibt. Der Klassiker hier kommt aus der Forstwirtschaft oder Fischerei: nur so viele Bäume fällen, wie nachwachsen, nur so viele Fische fangen, dass sich die Population noch erholen kann. Die Zukunft im Handeln so im Auge zu haben, wird auch ‹Enkeltauglichkeit› genannt. Nachhaltige Entwicklung umspannt im klassischen Modell drei Hauptgebiete: die ökologische, die soziale und die wirtschaftliche Dimension. Der Klimawandel hat beispielsweise eine ökologische und eine soziale Dimension, weil viele Menschen, die an Küsten leben, ihre Heimat verlassen müssen. Natürlich kommen hier auch wirtschaftliche Folgen hinzu. Diese drei Bereiche sind folglich eng verknüpft: ‹Lebenswert› wird unser Tun, wenn es sozial und ökologisch ist, ‹lebensfähig›, wenn es ökologisch und ökonomisch wird, und ‹fair›, wenn es sozial und ökonomisch ist. Gelten alle drei: fair, lebensfähig und lebenswert, dann ist es nachhaltig.
Davon kann heute kaum die Rede sein.
Deshalb geht es darum, die Wirtschaft, das soziale Leben und das ökologische Leben zu transformieren. Es gibt viele Lösungsansätze, viele Modelle, ausgereifte Technologien. Also könnten wir eigentlich die Armut, den Mangel an Nahrung überwinden, wir könnten die Klimadisruption, das Artensterben stoppen – aber es geschieht nicht. Hier gibt es diese fundamentale Handlungslücke, diesen ‹Mind Behavior Gap›. Unser Handeln ist anders als unser Bewusstsein. Etwas zu verstehen, einzusehen, lässt uns noch nicht handeln. Das führt die Nachhaltigkeitsforschenden dazu, bei Nachhaltigkeit auch von einem Innenraum zu sprechen – dort wo unsere inneren Werte sich gründen. Hier muss die Tranformation ansetzen.
Schon beim Pionier der Nachhaltigkeit, dem ‹Club of Rome›, einem weltweiten Zusammenschluss von ökologisch Engagierten und Geschäftsleuten Anfang der 70er-Jahre, findet sich dieser Gedanke seit Kurzem: Wir brauchen mehr als technische Lösungen. Wir brauchen, so erkennen wir heute deutlich, eine spirituelle geistige Dimension von uns Menschen, um zu verstehen, wieso wir trotz Einsicht unser Handeln nicht verändern. Viele Umweltaktivisten kommen zu dieser Einschätzung. Paul Kingsnorth, zum Beispiel, sagte 2018, er habe nie gedacht, er werde einmal öffentlich vertreten, dass die ökologische Krise schlussendlich eine spirituelle Krise sei und alles andere nur Symptom sei. In meinen Worten: Es ist eine Krise des ‹Erkenne dich selbst›, wo die Beziehung zum Selbst, zu den anderen und zur (Um-)Welt aufgebaut und belebt wird, anstatt abgebaut und infrage gestellt zu werden.
Hat diese Innenseite der nachhaltigen Entwicklung die Universitäten erreicht?
Ja. Die Universität Harvard oder die Universität Stockholm haben die ‹Inner Development Goals› mit entwickelt. Sie definieren Gebiete, die wir innerlich transformieren sollen und sprechen dabei von ‹being›, also sein, ‹thinking›, denken, und ‹relating, collaborating›, eigentlich fühlen, und ‹action›, wollen. Diese Viergliedrigkeit sollten wir transformieren und entwickeln. Ich finde es interessant, dass die Avantgarde der Nachhaltigkeitswissenschaft zu diesem Punkt kommt. Wir schaffen die äußere Transformation nicht ohne eine innere. Das ist schon seit Aristoteles und seiner Tugendlehre bekannt und stand am Tempel von Delphi: ‹Erkenne dich selbst› (innere nachhaltige Entwicklung) und ‹Nichts im Übermaß› (äußere nachhaltige Entwicklung).
Das griechische Ideal, nach der Mitte zu streben?
Ja, genau, und jetzt kommt es in den Nachhaltigkeitswissenschaften an. Bisher waren es die drei Felder ‹ökonomisch›, ‹sozial› und ‹ökologisch› und nun kommt als vierte Dimension die kulturell-geistige dazu, und diese durchdringt die drei anderen Felder. Die geistige Dimension beginnt mit den Fragen: Wer bin ich, was ist Umwelt und was Wirtschaft, was ist Gesellschaft? Und was ist Entwicklung?
Die Seele so einzubeziehen, hat dramatische Konsequenzen für unsere Idee von Wissenschaft. Sind sich die Forschenden dessen bewusst?
Ja, das ist die Frage! Damit stellt sich die Frage nach der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, die einander ja lange gegenübergestellt wurden: Ich und Welt als Gegensätze. Solch ein Denken bringt sie zusammen: Ich bin die Welt und die Welt bin ich. Das ergibt ein neues Verhältnis zur Tat! Die Karotte, die ich esse, das Feld, auf dem sie wächst, das bin ich.
Kürzlich fand der große Gipfel zur nachhaltigen Entwicklung und den ‹Inner Development Goals› in Stockholm statt. Einer der Hauptredner war Ha Vinh Tho. Er erzählte von dem ‹Gross National Happiness Index› in Bhutan, bei dem man die nationale Wertschöpfung nicht nur wirtschaftlich misst, sondern auch Glück und Zufriedenheit der Einwohner und Einwohnerinnen in die Rechnung nimmt. Dabei ist bemerkenswert, dass die Anthroposophie das auf der Erkenntnisebene und in der Praxis seit 100 Jahren übt, um sowohl diese wirtschaftliche, soziale und ökologische Nachhaltigkeit zu leisten, aber dabei auch diese kulturell-geistige Dimension zu integrieren. Der anthroposophische Beitrag konkret: Die Erde ist nicht eine zu reparierende Maschine, sondern ein lebendiger Organismus und sogar ein Wesen. In der Nachhaltigkeitswissenschaft ist hier von Systemdenken die Rede. Also man muss das ganze System verstehen, bevor man die einzelnen Teile begreift. Anthroposophie geht vom Systemdenken zur Idee eines Organismus: zum Organismus-Denken. Die Erde nicht als System, sondern als Organismus. Hinzu kommt, dass die Anthroposophie Menschen nicht als Zerstörer der Erde betrachtet – heutzutage sagt man gerne, dass wir im Anthropozän leben –, sondern als potenzielle Mitgestalter der Erde. Damit ist nicht die anthropozentrische Auffassung gemeint, wonach sich die Schöpfung mit uns erfüllt, sondern dass wir uns zu Mitgestaltern und Mitgestalterinnen der Erde aufschwingen. Wird die Erde im Jahr 2150 eine große Stadt mit abgegrenzten ‹Natur›-Zonen sein? Oder schaffen wir eine kokreative und integrative Existenz und Realität mit Landschaft, Pflanzen, Tieren und einer mitmenschlichen Welt? Wenn Bruno Latour über die ‹Bewohnbarkeit der Erde› spricht, sollte man diesen Dialog mit einem ‹konstruktiven Anthropozentrismus› führen.
Wo liegen dafür innerhalb der Anthroposophie die Hausaufgaben?
Wir sollten sichtbarer machen, dass man mit biodynamischer Landwirtschaft an einer ökologischen, sozialen und wirtschaftlich gerechten Gesellschaft arbeitet. Hier geht es nicht nur um Naturschutz, Regeneration oder faire Löhne und Artenvielfalt. Es ist ein ganzheitlicher Ansatz, der die kulturell-geistige Dimension einschließt: Sie möchte jenseits von Naturschutz und Regeneration die Erde ‹generieren› und transformieren – mit der Entwicklung der Erde als einem Metabewusstsein arbeiten. Eine zweite Hausaufgabe betrifft das eigene Selbstverständnis. Mit anthroposophischen Gedanken umzugehen, bedeutet allein für sich noch nicht, dass man ökologisch, sozial und wirtschaftlich positiv unterwegs ist. Vielmehr wird es persönlich noch fragwürdiger, wenn man sich ein Bewusstsein gebildet hat, was an Nachhaltigkeit notwendig wäre, und dann nichts unternimmt, sondern es dabei belässt, darüber nachzudenken. So sehr Anthroposophie Vorreiter ist, zum Beispiel in ökologischem Landbau, so sehr gilt es, sich bei der nachhaltigen Entwicklung zu engagieren. Eine Bringschuld betrifft die Frage: Wie bauen wir mit an einer nachhaltigen Entwicklung, wie geben wir hier den spezifischen spirituellen Beitrag? Gar nicht so leicht, denn in der Landwirtschaft sind die Wetterbedingungen und auch die wirtschaftlichen Verhältnisse unsicher geworden. Extreme Wetterlagen sind häufiger und können die halbe Ernte kosten. Auch die Wirtschaft ist labil geworden, sodass es nicht leicht ist, unter solch einer Belastung mit Überschusskräften zu arbeiten. Hier zeigt sich also, dass das, was man aktuell ‹Polykrise› nennt, sich im Verlust von Begegnung, Qualität und Reziprozität äußert – etwas, das durch ein breites und tiefes Verständnis von Entwicklung angegangen werden kann.
Jetzt planst du eine umfangreiche Publikation mit vielen Autoren und Autorinnen über nachhaltige Entwicklung und Anthroposophie. Wie kamst du auf diese Initiative?
Einige Mitarbeitende der Sektion nahmen vor zwei Jahren an der un-Klimakonferenz Cop27 in Ägypten teil. Wir hatten dafür das kleine Büchlein ‹Atmen mit der Klimakrise› geschrieben. Dazu hatte uns eine Stiftung ermutigt, die danach fragte, ob wir die Grundmaximen der Anthroposophie zu Nachhaltigkeit und Klima einem größeren Kreis zugänglich machen könnten. Da fragten einige Leser und Leserinnen: Wo sind eure praktischen Beiträge? Wo kann ich sie finden, sehen? Das wurde mir zum Motiv, ein Kompendium zu machen, das die Frage beantwortet, was nachhaltige Entwicklung aus verschiedenen anthroposophischen Perspektiven bedeutet – aus der Landwirtschaft, der Medizin, der Pädagogik, ja selbst aus der Kosmologie! Hinzu kamen viele Praxisbeispiele von anthroposophischen Unternehmen, sodass sich in der Publikation jetzt 30 Firmen mit ihren Projekten vorstellen und etwa 20 engagierte Wissenschaftler und Expertinnen verschiedene Perspektiven aus Pädagogik, Medizin, Landwirtschaft und Kunst einbringen.
Welche Erfahrungen machst du dabei?
Es waren berührende Erfahrungen für mich, zum Beispiel bei der Wasch- und Reinigungsmittelfirma Sonett. Die Frage lautete: Könnt ihr die Innenseite und die Außenseite von Sonett zeigen? Was ist für euch die Beziehung zum anthroposophischen Menschen- und Weltbild, die Beziehung zur nachhaltigen Entwicklung? Kurze Zeit später hatte ich einen unglaublich inspirierenden Text vor mir, der von der inneren Tiefe und dem äußeren Erfolg erzählt. Zu erkennen, wie diese beiden Seiten zusammenhängen, das hat mich sehr berührt. Interessant ist: Sie arbeiten nicht gewinnorientiert, das finden sie altmodisch. Sie überführen die Überschüsse in eine Stiftung, um in die Firma zu investieren und Kultur zu fördern. Das klingt doch nach einer bekannten Theorie, die dann aber einfach praktisch geworden ist.
Gewinnorientierung sei altmodisch? Das galt mal als das Modernste!
Es ist nicht nur altmodisch, es ist auch schief, weil dieser Gewinn auf Kosten von Erde und Mensch geht! Echter Gewinn ist, wenn Erde und Mensch besser rauskommen, als sie reingegangen sind. Indem der Gewinn auch Kultur schafft, bildet Sonett eine zweite Hülle. Das fängt mit der Gemeinschaftsküche an, wodurch eine inspirierende Stimmung im Unternehmen entsteht, und geht bis zu Angeboten für Massage für die Mitarbeitenden. Neben den drei klassischen Parametern der Nachhaltigkeit – ökologisch, ökonomisch, sozial – werden die Beteiligten durch ihr kulturelles, spirituelles Engagement Teil einer größeren Entwicklung von Mensch und Erde. Und da rückt die Frage nach Entwicklung ins Zentrum. Meiner Ansicht nach wird das oft übersehen, wenn man über nachhaltige Entwicklung spricht. Man vergisst die Frage: Nachhaltige Entwicklung, ja wohin denn? Wohin wollen wir uns entwickeln als Mensch und Erde? Diese Frage wird eigentlich auch im Nachhaltigkeitsdiskurs nicht gestellt. Die Definition ist von den Vereinten Nationen seit 40 Jahren nie verändert worden: «Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der gegenwärtigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen», in Harmonie mit der Erde.
Dann ist Nachhaltigkeit die Erhaltung eines Status quo?
Ja, Status quo eines Systems, das ist stationär. Den Entwicklungsbegriff, den müssen wir aber hinzufügen. Das ist sehr wichtig, weil wir uns sonst selbst verirren. Das wird auch von Denkern und Denkerinnen aus dem sogenannten globalen Süden kritisiert. Sie sagen: «Nachhaltige Entwicklung ist elitär, sie ist imperial, sie ist neokolonialistisch. Denn was macht ihr schlussendlich? Ihr fahrt in teuren Elektroautos und wohnt in luxuriösen Holzhäusern, und ihr behaltet die Macht.
Da kommt der Teufel durch die Hintertür wieder herein?
Ja, da haben wir eine absurde Situation, weil 80 Prozent der Weltbevölkerung nur Zugang zu 20 Prozent der Ressourcen haben, während 20 Prozent der Weltbevölkerung 80 Prozent beanspruchen. Die Kritik lautet also: Wie könnt ihr überhaupt darüber nachdenken, in eurer reichen Welt des Überflusses zu sparen und uns dies aufzudrängen, bevor wir Brot und Wasser haben. Da gibt es eine riesige Spannung und eine radikale Ungerechtigkeit, weshalb nachhaltige Entwicklung immer soziale nachhaltige Entwicklung integrieren muss, wie es auch die Vereinten Nationen beschreiben. Ja, das Bewusstsein hat zugenommen, aber der Handlungseffekt hat abgenommen. Wir wissen mehr und tun weniger.
Du beschäftigst dich mit Nachhaltigkeit. Was für ein Wesen klopft da an die Tür?
Das ist ein Wesen, das fragt, um so viel wie möglich in die durchdachte Handlung zu bringen. Es liebt die angewandte Erkenntnis, die angewandte Anthroposophie. Was wir verstehen, was vor dem inneren Auge steht, das muss bis in die äußerste Konsequenz in das tägliche Leben hineinkommen. Es ist kein großes Modell oder eine Regierung, die mit einer Gesetzgebung die große Wende bringen wird. Es sind vielmehr meine und deine Schritte jeden Tag. Ich bin ja an die Sektion für Landwirtschaft angeschlossen. Deshalb komme ich oft zu dem Schluss, ich sollte eigentlich Landwirt werden. Viele Menschen setzen die Idee der Nachhaltigkeit sehr radikal um – zum Beispiel in China. Dort haben manche so viele Bäume gepflanzt, dass die Neupflanzung alles Grundwasser geschluckt und die Umgebung aus der Balance gebracht hat. Man muss gut verstehen, was man tut.
Wo ist die Inspirationsquelle, um herauszufinden, was gut ist?
Das klingt vielleicht einfach, aber so ist es für mich: Das Gute offenbart sich durch die Begegnung mit anderen Menschen, durch die Begegnung mit der Natur und schließlich durch die Begegnung mit den Sternen. Das Gute als Inspiration, als Intuition finde ich in der Qualität der Begegnungen.