Karsten Massei lässt uns teilhaben an seiner Meditationserfahrung mit dem geistigen Wesen, das als Sophia, die Göttin der Weisheit, benannt wurde. Eine Einladung für alle, die sich diesem Wesen annähern wollen.
Hildegard von Bingen
Zahlreiche Zeugnisse, die auf die Gegenwart Sophias, der Göttin der Weisheit, hinweisen, sind überliefert. Diesen Zeugnissen ist anzumerken, dass sie diejenigen, die ihr Wesen bezeugen, erschüttert. Offensichtlich bleibt, wer ihr in welcher Form auch immer begegnet, nicht derselbe. Ein beeindruckendes dieser Zeugnisse stammt von Hildegard von Bingen. Gleich auf den ersten Seiten ihres Buchs ‹Welt und Mensch› gibt sie die Schilderung der Vision einer hohen Gottheit, die später als das Wesen der Liebe bezeichnet wird, aber unverkennbar sophienhafte Züge trägt. Die Schilderung besticht durch eine kraftvolle Klarheit. Unzweifelhaft handelt es sich um eine Gottheit, die über ein überragendes schöpferisches Vermögen verfügt. Hildegard von Bingen beschreibt sie als eine engelhafte, geflügelte Wesenheit. Das Kleid dieser Wesenheit leuchtet sonnenhaft, sie trägt das Lamm Gottes in Händen und über ihrem Kopf prangt das Angesicht Gottes. Unter ihren Füßen liegt die Gestalt eines Ungetüms, um das sich eine Schlange windet. Es existiert ein Bild dieser Gottheit. Daraus ist nicht zu ersehen, ob es sich um eine Göttin oder einen Gott handelt. Wer das Bild betrachtet, wird unmittelbar von der Erhabenheit, Machtfülle und Schöpferkraft dieser Wesenheit berührt. Hildegard von Bingen beschreibt ihre Vision, übermittelt uns aber auch Worte, die sie von dieser Wesenheit erhalten hat:
«Ich, die höchste und feurige Kraft, habe jedwede Funken von Leben entzündet, und nichts Tödliches sprühe ich aus. Ich entscheide über alle Wirklichkeit. Mit meinen höheren Flügeln umfliege ich den Erdkreis: Mit Weisheit habe ich das All recht geordnet. Ich, das feurige Leben göttlicher Wesenheit, zünde hin über die Schönheiten der Fluren, ich leuchte in den Gewässern und brenne in Sonne, Mond und Sternen. Mit jedem Lufthauch, wie mit unsichtbarem Leben, das alles erhält, erwecke ich alles zum Leben. […] Die Säulen, die das ganze Erdenrund tragen, habe ich aufgerichtet und ebenso die Windkräfte, die wiederum untergeordnete Flügel haben, sozusagen schwächere Winde, die durch ihre sanfte Kraft jenen Mächtigen widerstehen, damit sie nicht gefährlich ausbrechen. So deckt auch der Körper die Seele und hält sie zusammen. […]
Denn ich bin das Leben. Ich bin auch die Vernunft, die den Hauch des tönenden Wortes in sich trägt, durch das die ganze Schöpfung gemacht ist. Allem hauche ich Leben ein, so dass nichts davon in seiner Art sterblich ist. Denn ich bin das Leben.»
Diese Worte verraten, aus welcher Fülle Sophia schöpft und welche Gaben sie der Seele vermitteln kann. Sie ist eine wundersame Göttin. Sie ist unfassbar und entgleitet den Begriffen, derer wir uns gewöhnlich bedienen. Augenscheinlich verlangt sie nach anderen. Es ist durchaus ihr Wille, uns an Grenzen zu führen, zu irritieren und Fragen über Fragen auszulösen. Sie verwandelt. Sophia prüft die Seele, vor allem das Vertrauen in unsere Wahrnehmung, in unsere Vernunft und in uns.
Sophias Lieder
Von Sophia geht eine stille Aufforderung an die Seele, die sich an sie wendet. Diese Aufforderung ist leicht zu überhören, vor allem wohl, weil man nicht mit ihr rechnet. Aber Sophia wirbt um uns, ohne jedoch unsere Freiheit einzuschränken. Ihr Werben ist als ein lebendiger Klang immer da und ist hörbar, trotz oder gerade wegen der Stille, die um Sophia ist. In unserer Seele sind Organe, die Sophia hingegeben sind. Sie sind ihrem Klang in derselben Weise ununterbrochen hingegeben, wie er beständig erklingt. Das sind die fortgesetzten Lieder Sophias an die Seele des Menschen. Auch der Blick Sophias ruht auf dem Menschen. Er ist ohne Ablenkung oder Verschleierung. Er ist immer auf alle Aspekte unseres Wesens gerichtet, auch auf jene, die uns selbst noch rätselhaft sind. Sophias Blick gilt uns, unserem verschleierten und unverschleierten Wesen, unserer Vieldimensionalität. Man kann sich wünschen, den Blick Sophias zu erleben und auf sich zu fühlen. Man kann sich ihm in der Meditation hingeben. Er erschüttert, aber er ängstigt nicht, ganz im Gegenteil: Anstatt uns zu schmälern, erweitert er uns. Er mindert die eigenen Wesenskräfte nicht, sondern lässt uns unsere Fülle erahnen, unsere Verwandtschaft mit dem Kosmos und mit der Erde.
Gespräche
Nach innen führen die Wege zu Sophia. Durch Meditationen lassen sich diese Wege beschreiten. Auf diese Weise kann man sich Sophias Geistgestalt zuwenden. Man bietet ihr den eigenen Seelenraum an – mehr braucht es nicht. Alles Weitere lässt man geschehen. Je weniger man vorgreifend in die Meditation hineinlegt, desto klarer kann sich Sophia offenbaren. Nie ist im Vornherein gewiss, was geschehen wird. Mit dem Wesen einer Gottheit wird man bekannt, indem man sich ihr überlässt. Man gibt sein Ringen auf, sein Hoffen und Streben und seine eigenen Ideen. In der Begegnung mit einer Gottheit findet Wandlung statt. Es ist in einer gewissen Weise so, dass man sich selbst nicht mehr wiedererkennt. Man kann die Erfahrung machen, dass es zu einem Gespräch kommt. Es findet nicht unbedingt in Worten statt, aber in Gesten, Stimmungen, Zeichen. Die Weise, wie Sophia spricht, wird jeder für sich lernen müssen. Es gibt keine Regeln, außer die, sich Vertrauensvorschuss zu gewähren, die Erwartungen zu bremsen und auf alles gefasst zu sein. Oft stellt Sophia von sich aus Fragen. Von ihr nur Antworten zu erwarten, führt deshalb in die Irre. Sie gibt Aufgaben, weist auf blinde Flecken und Wunden hin, auch auf Schwächen und Mängel. Sophia lenkt den inneren Blick auf die Wunden der Selbstverleugnung, die uns das Kostbarste, das wir haben, vorenthalten. Sophia zwingt nicht. Sie ist uns gegenüber ohne Zwang. Jede Form der Abhängigkeit widerstrebt ihr. Nur offenbart sie sich nicht in der Sprache, die wir gewohnt sind. Wir müssen uns schon damit begnügen, ihren Gesten zu lauschen und den Empfindungen und Zeichen nachzugehen, die sie in die Seele legt. Sophia lässt uns frei. Dass sie in Chiffren spricht, ist der Garant dieser Freiheit.
Weisheitsnatur der Seele
Was bisher gesagt wurde, wirft ein Licht darauf, wie nahe uns Sophia steht. Sie ist an unserer Seite. Dem, der sie sucht, zeigt sie sich als die kosmische Seelenschwester seines Ich. Sie tritt vor den Menschen in seinem Innern hin. Solche Begegnungen sind besondere Ereignisse. Sie schreiben sich unvergesslich in die Seele ein. Sie gehören zu den unvergänglichen Kleinoden des persönlichen Schicksals. Je länger man dem lauscht, was aus diesen Begegnungen zur Seele spricht und sprechen möchte, desto klarer wird, dass Sophia und wir Aufgaben haben, die nur miteinander zu lösen sind. Für die Entwicklung der Erde hat diese Zusammenarbeit große Bedeutung. Impulse Sophias wollen uns auf die Rolle aufmerksam machen und vorbereiten, die uns von höheren Wesenswelten zugedacht ist. Sophia spricht davon, dass es ein Fehler wäre, diese Rolle zu unterschätzen, wie es ein Fehler wäre, sie zu überschätzen. Die Aufforderung geht an uns, diese Rolle aufzuspüren und anzunehmen und zu ihr in ein ausgeglichenes Verhältnis zu kommen. Die besondere Aufmerksamkeit und Sorge Sophias gilt der menschlichen Individualität. Als die weisheitsvolle Gottheit, die sie ist, ist sie gewillt, jedem Ich zu dienen. Sie ermuntert den Menschen, seiner weisheitsvollen Seele gewahr zu werden. Damit wird man demjenigen Seelenwesen gerecht, das den Kräften und Wesenheiten des Kosmos angehört. Unsere Seele ist ein Kind des weisheitsdurchtränkten Kosmos. Sophia vermittelt zwischen dem Seelenwesen, durch das wir ans Irdische gebunden sind, und demjenigen Seelenwesen, mit dem wir eins sind mit dem Kosmos. Sie behütet den Übergang zwischen diesen Welten. Die weisheitsvolle Natur der eigenen Seele ist das Feld, in dem uns Sophia in Erscheinung tritt. Dort ist sie uns gegenwärtig. Dieser Natur gewahr zu werden, ist der Beginn eines möglichen Sophienweges. Er ist nicht der einzige, es ist vielmehr einer unter vielen. Aufmerksamkeit und Hingabe gegenüber der eigenen weisheitsvollen Natur schließt auf für das göttliche, schaffende Wesen der Sophia. Ihre Natur offenbart sich in unserer.
Bild Stephansdom, Wien. Quelle: wikimedia