Haneen Sabbah, muslimisch-palästinensische Mutter aus Gaza, und Miriam Elizabeth Turmalin, Israelin mit jüdischen und christlichen Wurzeln, haben durch die Friedensarbeit Freundschaft und ein Ziel gefunden.
Was hat euch dazu gebracht, zusammenzuarbeiten?
Haneen Ich habe vor ein paar Jahren online Arabisch unterrichtet und Miriam hat angefangen, mit mir zu lernen. Abgesehen von unseren Identitäten und unserer Herkunft war unsere Verbindung besonders, weil Miriams Herz, ihr menschliches Herz, voller Liebe und Mitgefühl ist. Ich fühlte mich bei ihr sicher. Denn die Gewalt war allgegenwärtig. Sie brach direkt vor unseren Augen und auf unseren Bildschirmen durch. Ich begann zu fragen: «Was können wir tun, um das zu stoppen?» Es wurde immer mehr polarisiert, und mir war klar, dass ich mich nicht an dieser Teilung beteiligen sollte. Das hängt wirklich mit der konkreten Person zusammen, von der man sich nicht trennen will, und wir wollten uns nicht voneinander trennen. Wir haben gemeinsam die Vision entwickelt, dass wir uns gegenseitig brauchen, um Frieden zu schaffen. Ohne ein Miteinander kann es nicht gelingen. Ohne Freiheit und Gleichheit für alle kann es nicht sein. Es geht nicht um Israelis und Palästinenser oder Palästinenserinnen. Es ist eine umfassendere Sache, ein menschliches Problem. Wenn wir zulassen, dass dies mit Gaza geschieht, dann wird es morgen an einem anderen Ort sein und übermorgen an noch einem anderen.
Miriam Meine Großeltern waren ein Teil der zionistischen Bewegung. Sie kamen hierher und begannen, das Land zu besiedeln. Es tut mir sehr leid für alle, die ihr Zuhause verloren haben, und ich kann den Schmerz sehen. Gleichzeitig spüre ich den Segen, wieder zu Hause zu sein. Ich sage das für mich selbst, aber ich weiß, dass viele jüdische Menschen diesen Ort als ihr Zuhause empfinden. Das rechtfertigt nicht die Art und Weise, wie wir gekommen sind, ganz und gar nicht. Es ist nur so, dass ich mich in Israel mehr zu Hause fühle als irgendwo sonst. Dies ist mein Zuhause, und ich erkenne an, dass es auch ein Zuhause für andere ist, für die palästinensische Nation. Ich suche nach Möglichkeiten, wie wir gemeinsam zu Hause sein können, denn ich sehe keine andere Zukunft. Vor zwanzig Jahren ging ich in einen Laden, in dem ein blonder Mann saß, und ich fragte ihn, woher er käme, weil er nicht wie ein Einheimischer aussah. Er sagte: «Rate mal.» Schließlich sagte er: «Ich bin Palästinenser. Ich bin ein Flüchtling.» Er erzählte, wie sehr er Israel und die Israelis hasse. Ich fragte mich, was sollte ich jetzt tun? Er fragte: «Und woher kommst du?» Ich sagte: «Rate mal.» Er konnte es nicht und dann sagte ich ihm: «Ich bin Israeli. Hasst du mich jetzt?» Und er sah mich an und sagte: «Wie kann ich dich hassen? Ich habe nur Soldaten getroffen und sie haben meinen Onkel getötet.» Er konnte den Menschen nicht sehen, weil sie alle Uniformen trugen – wie konnte er nicht hassen? Die israelische Geschichte besagt, dass wir diejenigen sind, die sich mit allen Mitteln schützen müssen, und dass alle uns nur umbringen wollen. Wir haben die Wunde und das Trauma des Holocausts nicht geheilt. Ich sage das aus Mitgefühl für mein eigenes Volk und meine Nation. Wir müssen unsere tiefsten Wunden heilen. Dann begegne ich dem anderen nicht als jemandem, der mich umbringen will, sondern als jemandem, der nur seinen Lebensunterhalt verdienen und ein gutes Leben führen möchte. Es geht um unsere innere Heilung, darum, dafür Verantwortung zu übernehmen. Wir sollten uns nicht auf die Geschichten einlassen, die die Spaltung immer weiter vorantreiben. Wir können ewig weiterkämpfen, aber das würde viele weitere Leben und viel mehr Schmerz kosten.
Was können wir tun?
Miriam Das Beste, was die Leute tun können, ist, nicht Partei zu ergreifen. Das ist die Fortsetzung der Geschichte. Das ist die Vergangenheit. Wir wollen eine neue Geschichte schaffen. Die Geschichte des Friedens ist eine Geschichte, in der beide Völker hier ein Zuhause haben. Dafür müssen wir aufhören, Partei zu ergreifen, denn das macht uns nicht gleich. Sonst haben wir immer jemanden, den wir beschuldigen, und jemanden, den wir verteidigen. Das ist ohne Ende. Schaut auf den Schmerz und das Trauma beider Völker und darauf, wie wir die Verantwortung für die Heilung nicht nur der israelischen und palästinensischen Nation, sondern von uns selbst und von allen Menschen übernehmen können. Wir alle haben die Verantwortung, unser Trauma zu heilen, unsere Wunden zu heilen, unseren Schmerz zu sehen, den Schmerz des anderen zu sehen.
Was geschieht mit der Wut?
Miriam Sie ist wirklich ein starker Treibstoff. Wenn wir sie fühlen, ist sie wie unsere Liebe, etwas sehr Wertvolles. Wir können unsere Wut sehen und sie mit Respekt behandeln. Dann fragen wir: «Was schüren wir? Schüre ich den Hass in mir?» Oder sage ich: «Es ist mir so wichtig, dass ich nicht zulasse, dass du mich und meine Leute so behandelst.» Ich kann die Wut in eine Richtung lenken, die aufbauend ist, anstatt immer zerstörender.
Haneen Gewaltlosigkeit bedeutet nicht, dass wir schwach sind und nicht handeln. Es bedeutet, dass wir uns entscheiden, was wir mit unserer Wut, unserer Frustration, mit allem, was uns begegnet, anheizen wollen. Wir entscheiden uns dafür, etwas aufzubauen, das konstruktiv ist, das Zukunft und Veränderung bringt.
Miriam Wir arbeiten gemeinsam an verschiedenen Projekten, darunter eine gemeinsame Online-Trauerzeremonie für Israelis und Palästinenser am 7. Oktober, um die Verluste, den Schmerz und die Zerstörung in unserer Heimat zu würdigen. Wir arbeiten mit ‹Peace Weavers› zusammen, einer Gruppe von palästinensischen und israelischen Medizinfrauen, die Gebetswanderungen und Heilungszeremonien durchführen. Es gibt auch das Friedensprojekt ‹Satyam›, ein Haus, in dem sich Israelis und Palästinenser zu verschiedenen gewaltfreien Aktivitäten und Schulungen treffen können, um das Wachstum und die Widerstandsfähigkeit der Friedensgemeinschaft zu fördern.
Wie geht ihr mit euren Gefühlen um, während ihr an eurer Vision festhaltet?
Haneen Wir halten uns gegenseitig, wir beten. Und ich mache Aktivismusarbeit, die das Bewusstsein für die Situation in Gaza schärft. Andere zu treffen und mich mit ihnen auszutauschen, hat mir in diesen Zeiten stark geholfen. Aktionen, die auf Liebe basieren, helfen. Und manchmal bin ich auch hilflos und wütend und muss mich daran erinnern, dass jede und jeder eine Rolle spielen, um diesen Krieg zu beenden und dass es mit mir anfängt.
Übersetzt aus dem Englischen von Franka Henn.
Mehr Das Interview in ganzer Länge gibt es im Podcast ‹That Good May Become› (Folge 57) von Laura Scappaticci, 16. April 2024
Web Projekt ‹Peace Weavers›; Projekt ‹Satyam›
Ein vertiefendes Gespräch mit Haneen Sabbah findet sich im Podcast ‹Sounds of Sand› (Folge 87), 20. April 2024: ‹Cultural Stories and Mysticism of Gaza› auf scienceandnonduality.com
Bild Haneen und Miriam wirken mit am Projekt ‹Satyam›, ein Ort für gewaltfreies Miteinander, das vor einem Jahr anlässlich des Krieges im Westjordanland gegründet wurde. (Filmstill aus der Startnext-Kampagne)