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Wer vom Weg etwas weiß

«Sonst werde ich Schleusenwärter in der Provence.» Damit drohte schmunzelnd der Dozent und Mitgründer des Waldorfinstituts in Witten-Annen, Eginhard Fuchs, in den 80er- und 90er-Jahren, wenn ihm das soziale Gefüge mit den anderen Seminaren und Waldorfschulen zu viel wurde.


Er zitierte damit ein Ideal der damaligen Studierenden: Selbstverwirklichung. Deshalb stand in dieser Jugendgeneration der Künstler als Beruf hoch im Kurs. Abschied von Bürgerlichkeit und Norm. Aus Selbstbehauptung und Wettbewerb wurde die Selbstverwirklichung. Beide setzen voraus, dass dieses Selbst vorhanden und greifbar ist.

Doch wie, wenn dieses Selbst, der Kern der Persönlichkeit, gar nicht greifbar ist, um sich entfalten zu können? So trat an die Stelle der Verwirklichung die Erfahrung des Selbst und überall war Dag Hammarskjölds Spruch zu lesen: «Der längste Weg ist der Weg zu sich selbst.»

Doch wie, wenn das Ich verhüllt ist, größer und unbekannter als vermutet? Dann wird aus Selbsterfahrung Selbstfindung, wie Robert Musil in seinem Jahrhundertroman ‹Der Mann ohne Eigenschaften› schreibt.

Doch wie, wenn dieses Ich gar nicht gegeben ist? Dann ist Finden zugleich Erfinden. Dann ist der Weg zur Persönlichkeit die Persönlichkeit selbst. «Wege entstehen erst im Gehen», singt der Liedermacher Heinz Rudolf Kunze. Dann lohnt es sich, Christian Morgensterns viel zitierten Spruch umzudrehen, dann kann nur der zum Ziel finden, der vom Weg etwas weiß.


Zeichnung von Shira Nov, 2019

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