Rudolf Steiners Ehe mit der verwitweten Anna Eunike wirkt im Rückblick auch wie ein Versuch, sich in der irdisch-gesellschaftlichen Welt mehr zu beheimaten.
Anna Eunike wird Rudolf Steiners Lebensgefährtin, aber noch nicht in einem emphatischen Verständnis von Leben, von Gefährtesein, sondern eher, trotz aller Sympathie und sicher auch Liebe, unter pragmatischen Gesichtspunkten. Zwar ist in den überlieferten Äußerungen Zärtlichkeit spürbar. Dennoch gibt Steiner bald, einfühlsam, aber auch klarsichtig für sich selbst, seiner Partnerin zu verstehen, dass er nicht so ‹tickt› wie andere Männer, dass er ein Mensch ist, der nach geistigen, nicht nach bürgerlichen Idealen strebt. (Natürlich wird es in einem Haushalt mit Annas fünf Kindern keinen Raum für tiefere Gespräche über seine Arbeit gegeben haben.) In einer für ihn entscheidenden Lebensphase, dem Übergang vom Suchen zum Finden der eigenen Aufgabe, wird er Anna an seiner Seite haben.
Er fühlte früh und allmählich immer deutlicher, dass sie beide eigentlich auf verschiedenen Seiten des Lebens standen und nicht in der gleichen Weise für dasselbe brannten. Zwar bezieht das Paar noch zusammen eine Wohnung in Berlin-Friedenau. Doch schon kurz danach ist Steiner in der Hauptstadt viel beschäftigt und auch viel unterwegs. Und nur drei Jahre nach der Heirat mit Anna wird mit der jungen Marie von Sivers eine andere Frau in sein Leben treten, deren Namen er auch recht arglos fallen lässt. In Briefen aus London etwa (von einem Theosophen-Kongress 1902) heißt es zwar immer wieder, wie gern er Anna dabeigehabt hätte. Aber es ist auch bereits von Sorge um sie die Rede, oft ein untrügliches Vorzeichen in Beziehungen, dass einer einen Weg begonnen hat, auf den ihn der andere nicht wird begleiten können oder wollen.
Es schmerzte ihn, dass hier Gegensätze doch zu einem Widerspruch, zu einer Unmöglichkeit wurden. Hätte Anna verstanden, warum sie ihn nicht verstand, wenn sie ihm «glücklich zu sein» wünschte, hätte es gehen können zwischen ihnen, über einen längeren Zeitraum. Und hätte er gehalten, was er ihr, nun ja, in ihren Augen wohl indirekt versprochen hatte, nämlich: auch zu verstehen, warum er sie nicht verstand … und sich ihr anzupassen …, dann hätte es – nein, es hätte wohl auch dann nicht gehalten. Es hätte nicht funktioniert. Er hatte eine Aufgabe im Leben, alles ordnete sich dem unter. Er hatte bei Anna kein Schicksalsgefühl. Oder hatte sie es nicht? Oder gerade doch? Nur was sich einfügen würde in eine höhere Art der Ordnung – neben Nestwärme, Kochen, Putzen, gemeinsam Kinder erziehen, einander durchs Haar streichen –, nur das würde als Ehe ein Bund für ihn sein können, ein Bund, der zwei Menschen nicht nur hier unten auf Erden, sondern auch nach oben vereinte …
Die immerhin über sieben Jahre ältere Anna Eunike durchlebte hier eine Erfahrung von Beziehung mit einem Partner, der offenbar schwer zu greifen war. Er sagte ihr innige Worte, ja. Er unterstützte sie bei den fünf Kindern, und das war nicht wenig. Aber er würde niemals ihre Hoffnungen erfüllen. Auch ihre Interessen dürften indes nicht ohne Eigennutz gewesen sein; das gegenseitige Agreement war legitim. Oder war Steiner damals auch ein bisschen ‹typisch Mann›, gar ein ‹Nerd›? In Weimar funktionierte es noch, in Berlin nicht mehr.
Letztlich machten Anna und Rudolf miteinander eine ‹Lebensabschnittspartnerschaft› durch. Wobei im Wort Abschnitt immer etwas Schneidendes, Kühles steckt. Nicht ein zarter Übergang. Eher abrupt enden solche Wege, man sieht die wunden Stellen, die Schnittstellen der Trennung, die Grenzen, an die man miteinander stieß.
Zu diesen Grenzen und Zumutungen zählt auch, dass Rudolf Steiner eine Zeit lang eben doch einen zarten Übergang versuchte: indem er mit Anna, seiner Ehefrau, einer Tochter von ihr und mit Marie, zu der er sich hingezogen fühlte, in einer Wohnung zusammenlebte, in der Motzstraße in Berlin-Schöneberg. Wie hat man sich diesen Alltag vorzustellen?
Rudolf und Marie waren mit ihren theosophischen Anliegen befasst, gründeten von dort aus eine Zeitschrift und begannen ihre rege Zusammenarbeit. Das bunte, tolerante Berlin war gegenüber der thüringischen Provinz dafür das passende Pflaster. Anna wird sich in dieser Dreier-WG fremd gefühlt haben, vielleicht auch wie das fünfte Rad am Wagen. Die Einsamkeit, die Steiner in den Jahren zuvor so oft empfunden hatte, dieses Der-Fremde-Sein, Nur-Gast-Sein, jetzt mochte es Anna so gehen. Sie ertrug es nicht lange und zog nach wenigen Monaten wieder aus. Rudolfs und Annas Wege trennten sich, für immer. Steiner verstand das zwar, aus ihrer Sicht: «Doch weiß ich wirklich nicht, was ich gegen die Klatschsucht machen soll. […] Du selbst aber, liebe Anna, hast alles in der letzten Zeit schief angesehen. Sonst hättest Du nicht sagen können: Du wünschtest, dass ich glücklich werde. Missverstehe mich nicht. Ich weiß, dass Du es so meinst. Aber ich strebe wirklich nicht danach, persönlich glücklich zu werden. Ich will nur verstanden werden. Mich selbst aber – als Person – sollen die Leute links liegen lassen. […] Ich gebe Dir überhaupt nicht die geringste Schuld; und ich würde den Tag mit inniger Freude begrüßen, an dem Du zufrieden sein könntest. Aber was soll ich machen? […] Ich will mich nicht überheben, aber um eine Eisenbahn zu bauen, oder eine Fabrik zu leiten, oder einen Hofratsposten auszufüllen, hätte mein Verstand doch wohl dreimal gereicht. […] Ich erkenne über mich keinen Richter, denn ich weiß, was ich tue. […] Nun, liebe Anna, auch jetzt soll nichts anderes geschehen, als was Du willst, nur darf es nicht der Aufgabe widersprechen, die mir das Leben stellt. Aber wolle doch selbst etwas. Warum willst Du denn durchaus den Rat von Leuten einholen, die kein Fünkchen Verständnis für mich haben? Von Leuten, die doch nur alles schief ansehen, und die glauben, andere Menschen sind so schlecht, wie sie selbst sein würden, wenn sie nicht zu feige wären. […] Wenn ich Dir eine Zufriedenheit aus der Erde bohren könnte, so möchte ich es tun. Aber wie? Das hängt doch ein wenig auch von Dir ab.»1
Es geht bei der Deutung solch liebevoll-pädagogischer Abgrenzungsbemühungen nicht darum, Steiners Verhalten zu kritisieren, sondern zu zeigen, dass auch bei ihm – auf der Ebene der Neigungen und Beziehungen – Probleme, Herausforderungen und Unvereinbarkeiten auftraten wie bei anderen Menschen auch. Es steht uns nicht zu, darüber zu urteilen. Steiner stand weniger zwischen zwei Frauen als vielmehr zwischen dem, was er als stimmige Art zu l(i)eben, als Zukunft für sich spürte, und einem Leben, das sich über andere Kategorien definierte. Und dieses Leben, diese Kategorien waren wiederum für Anna nahe, vertraute und gewohnte Kategorien, während Marie die seinen teilte. Er versuchte offenbar eine Weile, der Entscheidung auszuweichen oder zwei Konzepte miteinander zu vereinen, ja, und vielleicht hoffte er sogar, ein damals utopisches, heute aber akzeptiertes Partnerschaftskonzept zu etablieren oder doch zu erproben, und sei es unbewusst; sicher sollte man ihn hier nicht als Pionier stilisieren. Er sah Annas Not (und seine) und er suchte nach einer Lösung. Aber Priorität behielt die Arbeit, behielt seine Lebensaufgabe.
In seiner Autobiografie hat Steiner dankbar auf diese Verbindung geblickt, vor allem auf die Anfangszeit in Weimar, wenn auch auffallend nüchtern: «(Das) Leben im Eunike’schen Hause gab mir damals die Möglichkeit, eine ungestörte Grundlage für ein innerlich und äußerlich bewegtes Leben zu haben.»2 Steiner konnte am Ende einfach weiterziehen, wie die meisten Männer bis heute: dem inneren Ruf folgen. Er hatte keine Kinder. Er war nicht, wie Anna, alleinerziehend. Allein erzog er allenfalls sich selbst.
Anna starb im März 1911, als ihr inzwischen öffentlich Aufsehen erregender Noch-Ehemann gerade mit einer Vortragsreihe in Prag beschäftigt war. Einer der Prager Zuhörer damals war Franz Kafka: auch er ein Mann, der die eigene Lebensaufgabe, das Schreiben, als mit menschlichen Beziehungen im Konflikt stehend erlebte und diese Kluft, weniger aus Kalkül denn aus Not, letztlich verteidigte. Der Unterschied war nur, dass Kafka mit seiner Aufgabe haderte, dass er sich ständig ver- und entlobte – seine Anna hieß Felice – und dass er das dabei privat Erlittene, auch seine Schuldgefühle, mit dem eigenen Schaffen vermischte, künstlerisch genial verklausuliert und hochgradig stilisiert. Wenn Steiner am 14. Februar 1904 an Anna schreibt: «Ich habe mich nie für etwas anderes interessiert, als was geistiger Art ist»3 und Kafka an verschiedenen Stellen sinngemäß und wörtlich schreibt, alles, was nicht Literatur sei, was sich nicht auf diese beziehe, langweile ihn, er hasse es, es störe ihn und halte ihn auf – dann liegt hier eine frappierende Ähnlichkeit vor, zumindest in der Unbedingtheit, dem eigenen Schaffen nachzugehen.4
Freilich besaßen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts meist nur Männer dieses Privileg. «Soll ich denn aber ein in einen Philister-Vogelkäfig eingesperrter Philister sein, der mit Philistern über Philister spricht?», fragt Steiner Anna im selben Brief rhetorisch.5 Doch in goldenen Käfigen saßen dazumal eher Frauen. Sie wären wahrscheinlich froh gewesen, hätten sie auch so wohlfeil klagen dürfen über die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder persönlichen Zumutungen, die sie von ihrer Lebensaufgabe ablenkten. Wolle doch selbst etwas, ermunterte Steiner Anna. Es war die positivere, vielleicht ehrlichere Variante der Strategie Kafkas Felice gegenüber: im gleichen Atemzug für sich zu werben und vor sich zu warnen. Erst eine starke Frau und Persönlichkeit, die Journalistin Milena Jesenská, verlangte Jahre später dem Advokaten Kafka wirklich tiefe, aufrichtige Worte und Entscheidungen ab – und fragte ihn: Was willst du wirklich?
Diese Frage hatte Steiner an anderer Stelle gegenüber Anna einmal klar für sich beantwortet: Ich will nur wirken.
Dieser Text ist ein Auszug aus ‹Unter den Augen des Himmels – Das Leben Rudolf Steiners› von Andreas Laudert, Futurum-Verlag, Basel 2025.
Siehe auch ‹Modell für Balanceakte, Rudolf Steiner als Geretteter›, in: ‹Goetheanum› 6, 7. Februar 2025.
Fußnoten
- Brief an Anna Steiner, Berlin, 14. Februar 1904, in: Rudolf Steiner, Briefe II, 1890–1925. GA 39, S. 433–435.
- Rudolf Steiner, Mein Lebensgang. GA 28, S. 373/374.
- GA 39, S. 435.
- Zur Begegnung zwischen Kafka und Steiner siehe: Franz Kafka, Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der Kritischen Ausgabe herausgegeben von Hans-Gerd Koch (GW). Band 9, Tagebücher, Bd. 1: 1909–1912, S. 29 ff., Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 1994. – Außerdem: Andreas Laudert, Prag, Viktoriahotel – Eine Gegenbewegung, in: Die Drei 3/2024 und 4/2024.
- GA 39, S. 434.








