Weltwahrnehmung durch sensorische und motorische Nerven

Das sinnliche Erleben ist kein physiologischer Prozess, sondern ein seelisch-geistiger, der sich der Physis bedient, um Bewusstsein zu schaffen.


Periphere Außenweltwahrnehmung durch sensorische Nerven

Bekanntlich sind Sehen und Hören nur dadurch möglich, dass die die Farben eines Gegenstandes vermittelnden physikalischen Lichtwellen und die die Töne vermittelnden Schallwellen von außen in unsere Sinnesorgane hineinwirken und dort in den Sinneszellen ein stoffliches bzw. bewegungsmäßiges Geschehen auslösen, nämlich Abbau von Sehpurpur in der Retina und Bewegung der Sinneshärchen im Innenohr. Diese Vorgänge lösen elektrobiologische Vorgänge der Zellmembranen der Sinneszellen aus, die von diesen auf die Seh- bzw. Hörnerven übertragen und deren Membranen entlang als sog. Aktionspotenziale bis in die Sinneszentren des Zentralnervensystems fortgeleitet werden. Diese Fortleitung wird nur in den Nervensynapsen unterbrochen, wo die Impulsübertragung durch Neurotransmitter geschieht. Erst wenn diese von außen kommende fortlaufende physikalisch-physiologisch-biochemische Prozesskaskade in den entsprechenden Zentren des Zentralnervensystems angekommen ist, treten Farben und Töne im Bewusstsein auf.

Wodurch entstehen Sinneswahrnehmungen?

Dies hat in der Sinnesphysiologie zur Behauptung geführt, die Farben und Töne würden vom Gehirn erzeugt. Im Gehirn können jedoch weder die erlebten Farben und Töne noch ihre Erzeugung aufgefunden werden. Die psychophysiologische Empirie zeigt lediglich, dass dann, wenn die Nervenimpulse in den zentralen Sinneszentren ankommen, die Farben und Töne dort draußen in der Welt erlebt werden. Und das gilt nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich. Zwar dauert es eine in Millisekunden gemessene Zeit, bis die vom Gegenstand ausgehende Prozesskaskade im Gehirn ankommt und das Sinneserlebnis bewusst werden kann. Aber das Bewusstsein bezieht sich zeitlich nicht auf das Ende, sondern den Anfang dieses Prozesses! Man nennt das in der Wissenschaft ‹Antedatierung›, die aber physiologisch überhaupt nicht erklärbar ist. Die Erklärung liegt darin, dass das Erleben der Sinnesqualitäten faktisch dann und dort stattfindet, wo und wann es draußen auftritt, aber als ein solches erst bewusst werden kann, wenn die neurophysiologische Aktivität das Zentralnervensystem erreicht hat. Das zeigt, dass die gesamte Prozesskaskade nicht der Erzeugung von Farben und Tönen im Gehirn dient, sondern der Vermittlung des bewussten Erlebens dort draußen. Sinneserleben ist kein mechanisch-physiologischer, sondern ein seelisch-geistiger Prozess, der sich aber der mechanisch-physiologischen Prozesse bedient, um zum bewussten Erleben der sinnlichen Außenwelt zu kommen. Die Nervenprozesse dienen dabei der Vorstellung des sinnlich Erlebten.


Periphere Innenweltwahrnehmung durch motorische Nerven

Bewegungsphysiologie bei Rudolf Steiner

Rudolf Steiners These zu den motorischen Nerven lautet, dass der motorische Nerv kein Willensnerv ist, der in der Muskulatur die Bewegung verursacht, sondern ein sensibler Nerv, der das Willens-Stoffwechsel-Bewegungsgeschehen im Muskel wahrnimmt, und dass die dem motorischen Nerven zugeschriebene Bewegungsursache eigentlich den Blutbahnen zuzuschreiben ist. Das Verständnis der sinnesphysiologischen Vorstellungen Steiners ist Voraussetzung für das Verständnis dieser Bewegungswahrnehmung: So wie das Sinneserleben in der äußeren Peripherie stattfindet, so das Willens-Bewegungs-Erleben in der inneren Peripherie, dem Muskel-Bewegungs-System. Das Nervensystem hat in beiden Fällen keine andere Aufgabe, als das durch die Vermittlung des peripheren Organs (Sinnesorgan, Muskel) Erlebte uns vorzustellen. Entscheidend ist dabei jedoch die von Rudolf Steiner selbst erwähnte Umkehr der Funktionsrichtung bei den motorisch-efferenten Nerven oder Nervenfasern gegenüber den sensorisch-afferenten, und zwar sowohl in räumlicher wie in zeitlicher Hinsicht. Diese Richtungsumkehr ist ein Hauptgrund für viele Kontroversen bei der Interpretation von Steiners These zu den motorischen Nerven.

Erleben und Vorstellen

Malerische Studien von Christiane Haid zur Frage der Sinne und des Ich, 2021

Die Hauptschwierigkeit liegt dabei in der reduktionistisch-neurozentrischen Denkgewohnheit, das Wahrnehmen nur als einen afferenten, d. h. zum Zentrum hin laufenden Prozess denken zu können, dessen peripherer Anstoß zudem zeitlich vor der zentral gedachten Wahrnehmung liegen muss. Aber das vorstellende Erleben erstreckt sich nachweislich über das Zentralnervensystem hinaus bis zum wahrgenommenen Objekt, und die zeitliche Verzögerung von der Peripherie ist nicht Sache des Erlebens, sondern von dessen Bewusstwerden in der Vorstellungsform. Das ist beim Willenserleben in der Bewegung dem Wesen nach gleich, aber in der funktionellen Ausführung in jeder Hinsicht umgekehrt: Die Bewegungsvorstellung ist in ihrer vom Zentrum abhängigen bewussten Form zunächst bloße Intention; sie konkretisiert sich erst in ihrer Verwirklichung in der Bewegungsorganisation, sie läuft dieser Verwirklichung also zeitlich voraus, und ihre Konkretisierung ist erst abgeschlossen, wenn die Bewegung verwirklicht ist. Die Bewegungsvorstellung verursacht jedoch nicht die Bewegung, sondern löst den Willensvorgang nur aus, der sich mithilfe des aus dem Blutweg gespiesenen Stoffwechsels als Bewegung verwirklicht. Dieser Bewegungswille wird in seinem Vollzug unbewusst erlebt, und dieses Erlebnis wird mithilfe der sich konkretisierenden Bewegungsvorstellung vorgestellt. In Bezug auf die ursprüngliche Bewegungsvorstellung ist es ‹postdatiert›. Das ist die durch den motorischen Nerv vermittelte Vorstellung der Willens-Stoffwechsel-Bewegungs-Wahrnehmung. Nach Rudolf Steiner ist auch der Sinnesprozess ein Willensvorgang. Deshalb die in Auge und Ohr ablaufenden Stoffwechsel- und Bewegungsvorgänge. Aber der Wille in der Sinnesorganisation ist rezeptiv, empfangend, die Umwelt prägt sich in ihn ein, deshalb die zentripetale bzw. afferente Prozessrichtung. Der Bewegungswille ist produktiv, gebend, er prägt sich Umwelt ein, deshalb die zentrifugale, efferente Funktionsrichtung. – Aber es gibt in den motorischen Nerven auch afferente Nervenfasern. Diese dienen quasi der ‹äußerlichen› Wahrnehmung des schon verwirklichten Bewegungsgeschehens durch den Eigenbewegungssinn, wogegen die eigentlich motorischen, efferenten Nervenfasern der innerlichen Willenswahrnehmung im Stoffwechsel-Bewegungs-Vollzug dienen.


Ausführliche Darstellung zu den sensorischen Nerven in: P. Heusser, Über die Realität des Seelisch-Geistigen im Sinnesprozess. Entwurf einer ganzheitlichen Sinneslehre. In: J. Weinzirl, P. Lutzker, P. Heusser (Hg.), Bedeutung und Gefährdung der Sinne im digitalen Zeitalter. Königshausen und Neumann, Würzburg 2017, S. 13–62.

Ausführliche Darstellung zu den motorischen Nerven in: P. Heusser, J. Weinzirl, T. Scheffers, R. Ebersbach, Erläuterungen zum ersten Ärztekurs Rudolf Steiners 1920. Vorträge 1 bis 3. Verlag am Goetheanum, Dornach/Salumed Verlag Berlin 2020, S. 302–338.

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