Was ist das menschliche Erkennen?

Was ist das menschliche Erkennen? Und es fällt diese Antwort so aus, dass man sieht: Das menschliche Sein wird erst zu dem, worauf es veranlagt ist, wenn es sich erkennend betätigt. Seelenleben ohne Erkenntnis wäre wie Menschenorganismus ohne Kopf; das heißt, es wäre gar nicht.


Im Innenleben der Seele erwächst ein Inhalt, der wie der hungernde Organismus nach Nahrung, so nach Wahrnehmung von außen verlangt; und in der Außenwelt ist Wahrnehmungsinhalt, der sein Wesen nicht in sich trägt, sondern es erst zeigt, wenn er mit dem Seeleninhalt vereinigt wird durch den Erkenntnisvorgang. So wird der Erkenntnisvorgang ein Glied in der Gestaltung der Welt-Wirklichkeit. Der Mensch schafft an dieser Welt-Wirklichkeit mit, indem er erkennt. Und wenn eine Pflanzenwurzel nicht denkbar ist ohne die Vollendung ihrer Anlagen in der Frucht, so ist nicht etwa nur der Mensch, sondern die Welt nicht abgeschlossen, ohne dass erkannt wird. Im Erkennen schafft der Mensch nicht für sich allein etwas, sondern er schafft mit der Welt zusammen an der Offenbarung des wirklichen Seins. Was im Menschen ist, ist ideeller Schein; was in der wahrzunehmenden Welt ist, ist Sinnenschein; das erkennende Ineinanderarbeiten der beiden ist erst Wirklichkeit. So angesehen wird Erkenntnistheorie ein Teil des Lebens.

Bild: Philip Stoll, Ohne Titel (Kollerinsel 1), 2019, 80 × 80 cm, C-Print

Aus Wahrheit und Wissenschaft, Anmerkungen zur Neuauflage 1924.

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