Was in der Meditation geschieht

Ein Gespräch über innere Kultur

Claus-Peter Röh im Gespräch


Erinnerst du dich an deine erste persönliche Meditationserfahrung?

Claus-Peter Röh Ich war Student an einer allgemeinen Hochschule. Dort habe ich an einem Selbsterfahrungsseminar teilgenommen, das die Uni anbot. Die aus heutiger Sicht einfachen Übungen waren für mich neu und fremd – zum Beispiel innere Stille, Besinnung auf etwas Vergangenes und etwas Zukünftiges. Ich habe diese erste Aufgabe nie vergessen, weil sich mir innerlich starke Bilder zeigten. «Sag mal, meditierst du eigentlich?», fragte mich ein Studienfreund, der mit der damals verbreiteten transzendentalen Meditation umging. Ich habe ihm interessiert zugehört, aber es blieb mir noch fremd.

Wie unterscheiden sich Konzentration, Versenkung, Kontemplation und Meditation?

Es beginnt mit der Konzentration oder mit der Richtung der Aufmerksamkeit. Ich fange an, mich zu sammeln und die Fülle der Ereignisse zu bündeln, zu fokussieren. Das würde ich als Konzentration bezeichnen, als einen Teil der Meditation, ein Werkzeug der Meditation. Du stimmst dein inneres Instrument. Das ist noch nicht der Inhalt der Meditation, sondern es führt zu ihr hin. Es hilft dir loszulassen von allem, was dich umrauscht als Sinneserfahrung. Ein nächster Schritt ist die Umwendung der Aufmerksamkeit von etwas Äußerem auf ein Inneres. Betrachte ich zum Beispiel die Polarität von Licht und Finsternis, kann ich sie äußerlich wahrnehmen, aber auch als innerliche Qualitäten erfahren. Im Schauen nach innen kann ich in einer Art von Achtsamkeit, wie dies heute häufig genannt wird, fragen, was ich seelisch als Qualität der Helligkeit oder Klarheit erlebe oder was als Dunkelheit? Im inneren Beobachten zu verweilen, das führt dich in die Meditation. Wenn der Inhalt, auf den ich mich richte, beginnt, sich selbst als Wesen auszusprechen, beginnt die Meditation. Der Widerspruch dabei: Ich bin aktiv, zugleich lasse ich den Inhalt gewähren, seinem eigenen Leben gemäß.

Das bedeutet, dass der eigene Wille schweigt und sich zugleich engagiert?

Ja, das ist eine wunderbare Frage. Dieser erste Schritt zur Konzentration ist ein richtiger Willensschritt. Wenn ich das nicht wirklich tue, dann gilt Sein oder Nichtsein, sonst bleibe ich in meinen Vorstellungen, in meinem Wunsch. Wenn ich über Meditation spreche, sagen mir viele, dass sie eigentlich meditieren wollen, aber den Punkt nicht erreichen, von dem wir hier sprechen. Wie kommt man an den Punkt und woran misst sich hier der Wille? Was den Ausschlag gibt, ist die Frage, ob ich draußen bleibe und zuschaue oder ob ich mich ganz hineinbegebe, im Vollzug die Sache ergreife.

Da geht es um ein inneres Evidenzerlebnis?

Ja, du spürst, dass du in einem Strom bist. Dabei würde ich als Ziel sehen, in diesem Strom wach zu bleiben und mich nicht einfach dem Strom zu überlassen. Wenn du einen Spruch meditierst, passiert es ja leicht, dass du ihn unvermerkt nur noch abspulst. Hier geht es darum, ihn Schritt für Schritt selber mitzugestalten und jetzt auch zu merken, wie sich dabei der Spruch ändert, lebendig wird und man selbst sich zu bewegen beginnt. Da geschieht ein Umschwung vom Eigenwollen zu einem Willen, der mir wie entgegenkommt.

Claus-Peter Röh im Gespräch. Foto: W. Held

Ist das im Miteinander von uns Menschen nicht ebenso? Ich bemühe mich, den eigenen Willen mit dem Willen der anderen in Übereinstimmung zu bringen?

Ja, das ist unbedingt so. Gerade im Sozialen, wo es oft auch um diese Erfahrung geht, habe ich den Eindruck, wie Eigenwille und Umgebungswille sich begegnen und dabei kein Kompromiss entsteht, in welchem beide Willensseiten etwas einbüßen, sondern ein Mehr. Dabei beobachte ich, dass ich im Nachklang erfahre, was da eigentlich gewollt oder eigentlich gefragt wird: Was meinst du jetzt eigentlich, frage ich dann. Gelingt es, ein feineres Gespür zu entwickeln für diese Nachklänge? Für mich als Lehrer war das in meiner pädagogischen Tätigkeit entscheidend. Du gehst nach einer Schulstunde aus der Klasse und fragst dich leise, was ist da eigentlich passiert? Da meldet sich so eine innere Stimme. Vielleicht hab ich es im Geschehen schon gespürt, aber es ist noch nicht bewusst geworden. Der Nachklang hilft dir, das noch mal anzuschauen.

Du bist viel mit Kursen zur Meditation unterwegs. Welche Fragen begegnen dir?

Wie komme ich in ein wirkliches Erleben dieser Meditation? Ich habe einen schönen Vers ausgewählt, bin konzentriert, aber ich bleibe unbeteiligt, bleibe doch Zuschauer, Zuschauerin. Hier hilft es, sich zuerst gedanklich zu verbinden, näher zu verstehen, wovon die Rede ist. Wenn du dann den Vers über eine Zeit wiederholst, kommst du in ein anderes Erleben von Geschmack und Klang. Es löst sich vom Kopf hin zu einem Verstehen des Herzens: Was lebt hier? Wie schmeckt das? Wie klingt das? Wohin will das? Das führt in die dritte Stufe, den Inhalt so zu vertiefen, dass er eigenes Leben bekommt.

Wenn ein Bild aufsteigt in der Meditation, braucht es ein waches Gespür für die Frage, ob es wirklich ist. Woher weiß ich das eigentlich? Da gilt es dann, wie in den Mysteriendramen, auch das Leben sprechen zu lassen und dem Denken wie dem Gefühl zu vertrauen, ob es Relevanz hat oder nicht.

In geführten Meditationen im Netz ist viel von Affirmation die Rede wie: «Ich bin ein kosmisches Wesen!» In der anthroposophischen Meditation muss man sich mühsamer zu solcher Vorstellung hinarbeiten?

Ein Kernpunkt anthroposophischer Meditation ist tatsächlich, dass ich mich nicht irgendwo hindenke oder -fühle, sondern dass ich freie Schritte aus meinem Hier und Jetzt in mir selbst gehe. Ich springe nicht, ich gehe! Vorgestern sagte jemand in einem Seminar, dass für ihn die Meditation damit beginne, sein Befinden zu prüfen. Wie bin ich in mir selbst? Erst das Wahrnehmen dieses ‹Wie› der eigenen Seele macht den freien Schritt möglich, sich auf etwas zu richten. Ich gehe also auf eine Sache zu, ich rufe sie nicht herbei. Ich selbst schaffe die Basis einer Begegnung. Dann aber gibt es den Umkehrpunkt, für den ich die Offenheit brauche, das andere sprechen zu lassen, die andere Seite hören zu können, hören zu wollen.

Das ist auch der Wechsel vom Auge zum Ohr?

Ja, vom Fokus des Auges zum Gewahrwerden des Ohres. Wo Rudolf Steiner in den Mysteriendramen diesen Übergang in seiner Wechselwirkung beschreibt, gehen die erlebenden Menschen durch Phasen innerer Ungewissheit. Maria und Johannes durchleben mächtige Bilder und Bildwesen, in denen ihnen etwas begegnet, was neu und unbekannt ist. Aus dem Erleben der Ohnmacht, die Erscheinungen aus dem Früheren nicht verstehen zu können, kann das Neue, das Zukünftige in Gedanken, im Hören des Wortes in sie hereinsprechen. Dieses neue Hören verlangt Offenheit und Mut, es zuzulassen.

‹Ohne Titel›, Adrien Jutard, 2023

Du überblickst eine weite Zeitspanne. Wie hat sich Meditation verändert?

Wir hatten hier am Goetheanum drei Phasen. Initiativen wie Meditation Worldwide machten das anthroposophische Instrumentarium für Meditation bekannt und regten an, mit Schicksalsfragen umgehen zu lernen. Dann haben wir uns über Methoden des Meditierens ausgetauscht. Welchen Weg will ich gehen und welchen will ich nicht gehen? Jetzt sind wir eigentlich in einer neuen Phase: Wenn man jetzt einladen würde zu einem Kolloquium, könnte man fragen: Wie erfahre ich die Wirksamkeit dieser Meditation am Leben? Wie resoniert mein inneres Leben zu meinem Beruf? Wie verändert es mein Leben? Ich glaube, die Frage dieser Wirksamkeit ist jetzt aktuell, gerade auch für jüngere Menschen.

Was bewirkt Meditation denn?

Sie bereichert dein Gedankenleben. Gerade in Momenten der Ruhe tauchen neue Gedanken und Gefühle auf. Das Framing fester Vorstellungen und Urteile beginnt zu wanken. Dann, gerade im Sozialen, wie es Rudolf Steiner in den Mysteriendramen zeichnet, bemerken wir im Vollzug des Lebens neue Dinge. Ich erwache für das, was zwischen uns Menschen sich abspielt, ich erwache für das Schicksal. Damit wächst auch ein inneres Freiheitsgefühl, denn ich erlebe, dass ich mich ändern kann. Und schließlich – zumindest ist das meine Empfindung –: ich erlebe eine ausgleichende, gesundende Wirkung.

Meditation betrifft die Nachtseite unseres Lebens, auch das Leben nach dem Tode. Was bedeutet Meditation für unser Verhältnis zu den Verstorbenen?

Gerade dort, wo in einer Art Zaubermoment ungewohnte Gedanken ‹hereinkommen›, habe ich beispielsweise den Eindruck, einem verstorbenen Menschen, an den ich gerade dachte, sehr nahe zu sein. Rudolf Steiner beschreibt, dass die Verstorbenen nicht in festen Begrifflichkeiten leben, sondern in geistiger Bewegung. Insofern wir dann in unserem Gedankenleben nicht ausgeformte Substantive, sondern bewegende Verben denken, sind wir den Verstorbenen nahe.

Welche Rolle spielt die Liebe für die Meditation?

Man kann ja ohne Liebe nicht wirklich etwas erkennen. Das ist das Credo von Goethe wie von Steiner und in der Meditation spüre ich, dass das wahr ist. Wenn ich Schicksalssituationen achtsam in der Meditation befrage, dann tönt aus der Meditation immer etwas in Richtung der Menschenliebe, der Liebe zur Freiheit des anderen. Das kann so real werden, als wäre man einem bestimmten Menschen begegnet.

Was kann ich dafür tun, dass es anderen gelingt, zu meditieren?

In unserer Verantwortungsgruppe von Living Connections haben wir diese Frage miteinander bewegt. Es wächst heute die wunderbare Fähigkeit, im Gespräch ein solches Vertrauen aufzubauen, dass man über meditative Erfahrungen offen spricht, auch über das Scheitern. Ich habe den Eindruck, dass jedes Erleben dieser Aufrichtigkeit ermutigt, selbst offen über Erfahrungen zu sprechen. Um andere Menschen zu impulsieren, zu ermutigen, selbst meditative Erfahrungen zu machen, gibt es – so glaube ich – ein elementares Mittel: Dort, wo wir selbst ganz aufmerksam hin- und zuhören, wecken wir im anderen eine Frage: «Wie vermag er oder sie nur so empathisch, so hingebungsvoll zu lauschen?» Die Antwort, die man sich dann vielleicht selbst gibt, lautet: Weil er oder sie meditiert! Das regt an, sich selbst auf den Weg zu machen.

Das Bild einer meditierenden Gemeinschaft sind die Mysteriendramen. Im Sommer sprichst du bei den Aufführungen über Meditation und Schicksal. Was erzählen Steiners Dramen über Meditation?

Diese Dramen sind von der Zukunft her gegriffen. Wie selbstverständlich spielen sich Abfolgen von Szenen ganz in der Meditation ab: Innerlich wahrgenommene Bilder und Geistwesen verweben sich mit konkret erlebten Schicksalssituationen. Sie bringen den Agierenden Erschütterungen und Herausforderungen, aber in der Auseinandersetzung mit ihnen auch neue Einsichten in Schicksalszusammenhänge. Erst dort, wo zum Beispiel die Wesenhaftigkeit Luzifers oder Ahrimans von ihnen durchlebt und durchschaut wird, zeigen sich neue Aufgaben und Richtungen für ihre Lebensentschlüsse. Im Zusammenklang von geistigen Erfahrungen und individuellen Lebenswegen spielen gerade die Fragen des gemeinschaftlichen Wirkens und sich Tragens eine entscheidende Rolle. Dieses Mysterium der Gemeinschaft beschreibt Benediktus mit den Worten: «Des Lichtes webend Wesen / es erstrahlet von Mensch zu Mensch / zu füllen alle Welt mit Wahrheit.»

Welche besonderen Aufgaben ergeben sich beim Umgang mit Rudolf Steiners mantrischen Texten in der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft?

Es haben sich in der Freien Hochschule über lange Jahre vertiefend arbeitende Kreise gebildet und viele Menschen haben sich in ihnen gefunden. Kern der Mitgliedschaft ist ja der Entschluss, die Anthroposophie in der Welt zu repräsentieren und mit dem ganzen freien Wesen für sie einzustehen. Insofern stehen wir mit der mantrischen Arbeit der Klassenstunden immer in der Aufgabe, einen größeren Zusammenhang mit der Welt und dem Zeitgeschehen zu bilden. Diese Aufgabe tritt in den letzten Jahren immer stärker ins Bewusstsein: Wie können sich in der Zukunftsgestalt der Freien Hochschule tiefste innere Arbeit und die Sek­tions- und Lebensfelder mit ihren Forschungs- und Praxisfragen noch deutlicher und noch entschiedener verbinden?

Angesichts von Krieg und Klimakrise: Was bedeutet es zu meditieren?

Das spielt eine große Rolle. Ich spüre an Begegnungen, ob nun mit jüngeren oder erfahrenen Menschen, dass viele beobachten, wie sich die Gegenwartskrisen in der Seele spiegeln. Die inneren Spannungen sind nicht kleiner als die äußeren. Während ich die äußeren zunächst nicht ändern kann, kann ich die inneren direkt bearbeiten und mich an befriedend wirkende Gedanken wenden – durch Meditation. Wir sind in den Konflikten so schnell im Entweder-oder, wir neigen zu Schwarz-Weiß, statt in allen Farben zu denken. Da schenkt uns die Meditation einen seelischen Freiheitsraum, Beweglichkeit, Mehrdeutigkeit und immer eine Frage an die Zukunft.

Die Begegnung mit dem eigenen Schatten, was bedeutet hier Meditation?

Meiner Erfahrung nach ist das eine zentrale Frage und ich bin nicht sicher, ob es anderen auch so geht. Gerade in den Situationen der Meditation kommt es zu solchen Begegnungen mit Gegenkräften, als ob sich ein Okular auf sie richten würde: Ich kann z. B. bemerken, dass ich zu fest am äußeren Sinnesleben gebunden bleibe oder auf der anderen Seite so viel hineinerwarte, dass die wirklich freie Situation der inneren Begegnung nicht entstehen kann. Ich kann den geistigen Zusammenhang im hohen Ideal in der Meditation erleben, aber im nächsten Moment die Offenheit verlieren für den realen Konflikt in der Umgebung. Kein Ohr mehr für die andere Partei, die andere Seite zu haben, kann eine Wirkung des Doppelgänger-Wesens sein. Eine andere wäre die Beobachtung, dass sich durch eine falsch verstandene Meditation der Schatten der Mitmenschen schärfer und klarer zeigt. Ich urteile, habe aber gegenüber meinen eigenen Schattenseiten eine Art blinden Fleck. Ziel wäre es, solchen Schattenwürfen der Meditation aufrichtig und frei zu begegnen.

Was hat es mit der Dankbarkeit auf sich in der Meditation?

Meine Erfahrung ist, dass Dankbarkeit in tiefer Weise unsere Lebensidentität berührt. Dankbarkeit trägt uns über Konfliktsituationen, über Nöte, über scheinbare Überforderung. Ich denke dabei an die Schicksalsfragen in den Mysteriendramen, die wir jetzt im Sommer spielen. Wenn die Dankbarkeit so weit reicht, dass ich begreife, dass ich für eine bestimmte Erfahrung überhaupt auf die Erde gekommen bin, dann gibt das eine innere Stärke, die früher vielleicht ein Gottvertrauen schenkte. Ich habe das erlebt an der Dramatik der Biografie von Dag Hammarskjöld, aber ich kenne das auch aus eigener Anschauung. Dass der Wille ein hörender Wille wird, das geschieht aus Dankbarkeit und zugleich weckt das Dankbarkeit. Ich schaue nicht nur auf das Eigene, das selbst Gewollte, das eigene Ziel, sondern im Grunde genommen erfahre ich eine Weitung, eine neue Farbe des Lebens. Da wird mir etwas geschenkt und für was kann man mehr dankbar sein als für ein Geschenk?


Titelbild Aphorismus von Philip Kovce

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