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Wahrhaft denken

Ein Zwischenruf im Erlebnis des Grundsteinspruches und der Staatsgewalt.


Michaeli 2016, Goetheanum-Weltkonferenz: «Was wird wohl auf uns als globale anthroposophische Bewegung noch alles zukommen in den nächsten Jahren – und wie werden wir dann damit umgehen?» – Diese Frage beschäftigte mich, als ich in die vielen freundlichen und aufgeweckten Gesichter schaute, die sich der eurythmischen Darbietung des Grundsteinspruches zuwandten. Beides hat mich auch in den letzten Tagen intensiv bewegt: die unvergleichlichen ‹Durchgangsmomente› von Rudolf Steiners Grundsteinspruch zum einen und zum anderen die Frage: Wo seid ihr jetzt, wie geht es euch, was meint ihr?

Ich war jedenfalls in meinem 35-jährigen Leben noch nie mit einem solchen Ausmaß zentralistischer Staatsgewalt konfrontiert – wobei ich mich gar nicht nur subjektiv betroffen fühlte, sondern viel umfassender vom Erlebnis der sich zunehmend partikularisierenden und in ihren Beziehungen wie fremdbestimmten und in ihrer Meinungsbildung wie vergifteten Gesellschaft bis auf die Knochen erschüttert war. (1) ‹Aufstehen, Krönchen richten und weitergehen› (und um das ‹Krönchen› des Vertrauens ins eigene Denken scheint es mir in dieser Krise vor allem zu gehen!), das ist erst nach und nach im Gespräch mit offenen und mutigen Zeitgenossen gelungen.

«Aus dem Göttlichen weset die Menschheit …» Ich war beispielsweise Harald Matthes für sein Vertrauen in die Selbstheilungskräfte des Menschen und seine angstfreie Haltung, die buchstäblich das Virus ‹umarmt›, sehr dankbar. Vor allem auch für die Perspektive der ‹Herdenimmunität› bei gleichzeitigem Schutz der gefährdeten Gruppe. Aber umso verstörter war ich, dass der anthroposophische Bürger- und Patientenverband dann vor allem Tipps zur Stärkung des Immunsystems versandte und dass kein Ton der Kritik zu den behördlichen Maßnahmen kam, die mich so fassungslos machten. Es folgten Aufrufe zur Meditation von verschiedener Seite, aber es traf sich nicht mehr: Äußere Systemwelt und innere Besinnung waren abgekoppelt voneinander. «Lasset vom Osten befeuern, was durch den Westen sich formet» – das Feuer gestaltete die Formen nicht mit!

Da kam der Rundbrief des Hamburger Russlandforschers Kai Ehlers (2) (der in seiner Biografie die Begeisterung für den Marxismus konsequent bis zu Rudolf Steiners Lebenswerk weitergeführt hat) wie eine Erlösung: Er nannte die «Perversion der Solidarität» beim Namen und wagte es, den Lockdown als globale Notstandsübung zu bezeichnen. Er hielt den inzwischen als ‹unethisch› verschrienen Weg, die Ausbildung einer Gemeinschaftsimmunität bei gleichzeitigem Schutz der Gefährdeten, erneut als Alternative hoch. «Denn es waltet der Christus-Wille im Umkreis» – ich konnte wieder atmen! Wenig später berichtete die ‹Zeit› über den schwedischen Umgang mit dem Virus (3), der mehr Augenmaß walten lässt und nicht gleich alles ‹dichtmacht›.

«Übe Geist-Erschauen in Gedanken-Ruhe» – das ist zurzeit schwer: «Auch wenn nur ein einziges Menschenleben gerettet werden könnte, wäre ich für die Maßnahmen!» Der Tunnelblick der Panik hält viele gefangen. Der Konstanzer Bildungswissenschaftler Georg Lind indessen nahm die kritischen Stimmen zur Coronastatistik deswegen ernst, weil er durch seine PISA-Forschungen wusste, wie leicht die komplexe Wirklichkeit mit isolierten Testergebnissen verzerrt werden kann.(4) Und in unserer Werkstattbühne in Cottbus-Kahren, wo sich einige Großstadtflüchtlinge versammelt hatten, entstand in den folgenden Tagen Thomas Brunners ‹Zauberlehrlingspolitik› (5) – als begriffliche Zusammenschau der gegenwärtigen Ereignisse: Die soziale Lüge der neoliberalen Gesellschaftsform (wir brauchen Egoismus in der Wirtschaft und den Staat für den sozialen Ausgleich) wartet darauf, endlich aufgedeckt zu werden! Es ist an der Zeit.

Den offenen Denkraum sollten wir uns gönnen und uns die Arbeit machen, in permanenten Konferenzen immer wieder neu das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen, um den einzelnen Aspekten ihren Platz im Ganzen zuzuweisen. Wenn wir uns pauschal gegenseitig vor ‹Verschwörungstheorien› warnen, verunmöglichen wir das Wunder der dritten Strophe des Grundsteinspruches: die gnadenvolle Schöpfung neuer Initiativkraft aus der Erkenntnis der Zusammenhänge!

Diejenigen, die in der verordneten Pause große Chancen für die spirituelle Weiterentwicklung der Menschheit sehen, erinnern mich in ihrer Zynik an die Waldorflehrpersonen, die sagen: Schaut nur her, unseren Schülerinnen und Schülern tut dieser Abiturdruck gut, die sind jetzt so konzentriert wie nie! Sicherlich kann man allem immer irgendwie etwas Positives abgewinnen, aber so wie das Abitur nach wie vor ein «Verhinderungsinstrument des freien Geistes» (Konrad Schily) ist, ist der gegenwärtige Shutdown ein Frontalangriff auf die Ich-Kultur, die wir eigentlich stärken wollen, auch wenn der Shutdown Einzelnen behagliche Wochen bescheren mag. Er schafft Einfallstore für Zentralisierung und Überwachung, gefährdet zahlreiche kulturkreative Existenzen, während Amazon zigtausend neue Leute einstellt, und er sorgt für (traumatisierende) Verunsicherung auf vielen Ebenen.

Die Kernfrage der Coronakrise führt uns zum ‹Krönchen› zurück, ist doch der Mensch selbst König seiner Gesundheit. Es gibt so viele Spielarten von Gesundheit, wie es Menschen gibt, das wusste auch der große Philosoph Hans-Georg Gadamer. Differenzierte Aufklärung ist nötig, bestmögliche Hilfsangebote für Gefährdete sind absolut wünschenswert, aber wenn die Menschenseele nicht in abstrakten Strukturen ersticken soll, ist die Freiheit des Einzelnen auch in gesundheitlichen Fragen zu wahren.


Titelbild: New York, ein Zentrum der globalen Finanzwirtschaft, während der Coronapandmie wie leergefegt. 3. April 2020. Foto: Ben Schindler

(1) Es gab erschreckende Berichte von Freunden, wie die Rundmail des Künstlers Immo Eyser verschickt hatte, der gerade mit seiner Frau Katinka, ebenfalls Künstlerin, ein Jahr in Paris verbringt: «Hier in Paris fast jeden Tag zu einer Verschärfung der Ausgangssperre kommt. Mittlerweile dürfen wir nur noch eine Stunde pro Tag raus und nur zu Fuß, also kein Fahrrad, was mich besonders trifft. Eine für jeden Tag neu ausgefüllte eidesstattliche Erklärung mit Zeitangabe und Grund des Ausgangs müssen wir draußen bei uns haben. Der Bewegungsradius beträgt 1 Kilometer. Polizisten zu Fuß, auf Pferden, auf Fahrrädern, Motorrädern, in Autos, in Zivil und sogar Schnellboote auf der Seine sind unterwegs und kontrollieren. […] Aber heute keine Polizeikontrolle. Dafür aber eine Drohne die in kurzer Distanz flog und dann in der Luft stehen blieb. Wir wissen nicht ob sie von der Polizei war und ob sie uns gefilmt hat. Es gilt sich nicht bange machen zu lassen. Die Präsenz der Polizei ist groß, nicht jeden Tag, aber wenn, dann sind es viele unterschiedliche Kontrollen. Die Art des Auftretens der Polizei gibt einem das Gefühl eine Bedrohung zu sein. […]
(2) Rundbrief Kai Ehlers
(3) Artikel der Zeit
(4) Artikel Georg Lind
(5) Zauberlehrlings­politik

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