Von der Eurythmie, von Gott und dem Grammophon

Der letzte der vier großen Bände zur Eurythmie in der Gesamtausgabe ist im Frühsommer erschienen. Vor allem Rudolf Steiners Ansprachen vor Eurythmieaufführungen sind hier zu finden.


1965 brachte die Rudolf-Steiner-Nachlassverwaltung in der damals noch relativ jungen ‹Rudolf Steiner Gesamtausgabe› den bemerkenswerten Band heraus ‹Die Entstehung und Entwickelung der Eurythmie› (GA 277a). Eva und Edwin Froböse, die noch eng mit Marie Steiner-von Sivers zusammengearbeitet hatten, hatten in vieljähriger Archivarbeit einen breitformatigen, kunstvoll komponierten Band zusammengestellt, mit vielen Abbildungen und Materialien aus den Jahren des Eurythmieaufbaus von 1912 bis 1925 in chronologischer Ordnung – darunter Erinnerungen und Notizen der beteiligten Eurythmistinnen (unter Einschluss von Lory Smits’ Aufzeichnungen ihrer ersten Unterrichtstunden 1912) sowie von Marie Steiner-von Sivers bis hin zu ausgewählten Eurythmieansprachen und -ankündigungen Rudolf Steiners und Notizen von seiner Hand. Der überaus verdienstvolle Auswahlband, der auch zahlreiche Eurythmieprogramme der Jahre 1913 bis 1925 enthielt, bedeutete einen Markstein in der Dokumentation und im Verständnis der frühen Eurythmieentwicklung, aber auch einen Markstein der Gesamtausgabe selbst (obwohl von den 210 Seiten des Buches weniger als die Hälfte von Rudolf Steiner selbst stammte) – und er fand eine große Verbreitung.

Nun wurde vom Rudolf-Steiner-Verlag (Basel) der letzte von vier Bänden publiziert (GA 277a–d), die den ersten großen Griff von Eva und Edwin Froböse (auf damals 210 Seiten) nach 60 Jahren ersetzen. Beginnend mit dem Jahr 2022 erschienen durch die Arbeit von Martina Maria Sam und Stefan Hasler vier umfangreiche Bücher mit zusammen fast 3000 Seiten, die die Geschehnisse von 1912 bis 1925 ebenso minutiös wie umfassend dokumentieren – und, neben vielem anderen, auch ein Erweis dessen sind, wie sich die Archivarbeit und der editorische Standard in Dornach in vergleichsweise kurzer Zeit fulminant weiterentwickelt haben. Der abschließende Band der Edition (1923–1925) hat über 850 Seiten, fokussiert erneut auf die originalen Wortlaute Steiners (und nicht auf die Erinnerungen anderer) und endet mit 32 Farbabbildungen von eindrucksvollen, ja zum Teil grandiosen Eurythmieplakaten, gestaltet durch Rudolf Steiner, aber auch durch Walo von May, Hilde Pollak, Louise van Blommestein, Henni Geck und Arild Rosenkrantz – mit Liebe und Hingabe, Originalität und Courage.

Den Hauptteil des Buches machen Rudolf Steiners gesammelte Ansprachen vor Eurythmieaufführungen aus. Wie oft ließ er es sich, trotz seiner enormen Beanspruchung mit so ganz anders gelagerten Aufgaben, nicht nehmen, die einleitenden Worte selbst zu sprechen, je neu und oft so anders als das Mal zuvor – so noch im Sommer 1924 in Großbritannien, kurz vor seinem Krankenlager, wo er die Ansprache sogar schriftlich fasste, sehr wahrscheinlich als Vorlage für die Übersetzung (S. 642 ff.). Einmal sagte er, die Eurythmie müsse durch sich selbst wirken, ihren Eindruck «in Unmittelbarkeit» selbst machen. «Aber da es sich hier darum handelt, eine künstlerische Strömung zu inaugurieren, welche aus besonderen künstlerischen Quellen, die bis heute eigentlich nicht erschlossen sind, stammt und auf der anderen Seite zu einer besonderen künstlerischen Formensprache greift, so darf von diesen beiden, von den Quellen, von der besonderen Formensprache, einiges dem Versuche vorausgesandt werden.»

Weiter umfasst der neue Band GA 277d Rudolf Steiners Notizen für seine Ansprachen sowie Ankündigungstexte Steiners für einzelne Aufführungen, viele Programme und Plakate, Zeitungsannoncen und Eintrittskarten, Steiners Entwurf für ein Eurythmiediplom oder einen Bühnenvorhang, Steiners Briefe und Briefpassagen zur Eurythmie 1923 bis 1925, oft aus seiner Korrespondenz mit Marie Steiner-von Sivers, aber auch Fragenbeantwortungen zur Eurythmie aus Vorträgen oder Ausführungen in Konferenzen mit dem Stuttgarter Waldorfkollegium. Der abschließende vierte Band reicht vom Brand des Goetheanum (Silvester 1922/23) bis zu Steiners Tod (30. März 1925). Man kann mit ihm sehr genau verfolgen, wie das Wesen Eurythmie die letzte Phase von Rudolf Steiners Vita begleitete – oder auch umgekehrt: wie er dieses Wesen in seiner Entfaltung bis zuletzt förderte, das heißt in den unzähligen Proben und kleinen wie großen, internen wie öffentlichen Programmen und Aufführungen. Man kann es durch diese mustergültige Edition nicht nur im Allgemeinen ahnen oder postulieren, sondern Schritt für Schritt nachvollziehen, sorgsam und sehr genau. Man schläft darüber nicht ein, sondern wacht vielmehr immer mehr auf, was ebenfalls mit dem Wesen der Eurythmie und dem Wesen Rudolf Steiners zu tun hat. In dem Band findet man auf S. 355 einen Programmzettel der Eurythmieaufführungen in Penmaenmawr (Wales) vom 25./28. August 1923, auf dem Rudolf Steiner sich handschriftlich eine englische Zusammenfassung von Christian Morgensterns Humoreske ‹Das Grammophon› notierte: Der Teufel bringt Gott ein Grammophon. Gott ist offenbar zuerst beeindruckt («has a moment of illusion of the disquisting [disgusting] music of spheres»). Doch nachdem Gott alles dreimal angehört hatte, sandte er den Teufel mit seinem Grammophon in die Hölle.


Buch Martina Maria Sam und Stefan Hasler (Hrsg.), Die Entstehung und Entwicklung der Eurythmie. GA 277, Band A-D.Ansprachen, Notizbucheintragungen, Auszüge aus Vorträgen, Plakate und Eurythmieprogramme, Rudolf-Steiner-Verlag, Basel, 2025

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