Verwandlung der Wissenschaft

Vom 22. bis 24. April 2022 findet in Antwerpen eine besondere Tagung statt: ‹Metamorfose-22› – zu einer Wissenschaft, die verbindet. Das Thema könnte kaum aktueller sein. Begleitend gibt es die Ausstellung ‹Mensch und Tier› zur geisteswissenschaftlichen Erforschung der Evolution. Luc Vandecasteele sprach mit Wilbert Lambrechts, dem Vorsitzendem der Anthroposophischen Gesellschaft in Belgien und Mitglied der Initiativgruppe dieser Tagung.


Können Sie etwas zum Thema der Tagung sagen? Sie scheint aus der Aktualität der Pandemie und der Klimakrise heraus geboren zu sein?

Das Thema einer Verwandlung der Wissenschaft durch anthroposophische Meditation wurde uns schon 2019 klar. Da war die Pandemie noch nicht in Sicht. Aber es wurde bereits gesprochen und demonstriert mit der Parole ‹Follow the science›. An sich ist es nicht falsch, wenn man darunter eine wandelbare Wissenschaft versteht, die noch erweitert, vertieft, auch umgestülpt werden kann. Eine Wissenschaft, die nicht kopf-, herz- und willenlos macht, der man nur gehorcht, sondern eine Wissenschaft, die das Beste im Menschen aktiviert und ihn schöpferisch macht. Durch die Pandemie scheint dieses Thema plötzlich fast ‹staatsgefährlich› zu sein, eine Zumutung und eine Herausforderung. Aber es handelt sich nicht um eine alternative Wissenschaft neben der anderen. Noch weniger handelt es sich um ‹alternative facts›. Anthroposophie als notwendiger Weg der Metamorphose ist brandaktuell, weil sie die grandiosen Errungenschaften der Wissenschaft anerkennt und gerade deshalb einen Schritt weiter in die Vertiefung derselben möglich macht.

Aus welchem Kreis ist die Tagung entstanden?

2017 hat die Antwerpener Initiativgruppe Antroposofie in Antwerpen im Rahmen der Anthroposophischen Gesellschaft in Belgien eine Tagung veranstaltet, die den Namen bekam ‹Lichtbaken 1917–2017›. Sie wollte eine ‹Erkenntnisfeier› sein für die ‹Entdeckung› der Dreigliedrigkeit des Menschen und des sozialen Organismus. Diese Simultanität erschien uns ein anthroposophisches Urphänomen zu sein, das wir hervorheben, untersuchen und feiern wollten. Fast 250 Menschen aus acht Ländern kamen drei Tage zusammen, was ein Erfolg war für die hiesigen Verhältnisse. Die vierköpfige Initiativgruppe hatte das mehr als zwei Jahre studierend, planend und organisierend vorbereitet. Spätestens 2018 wurde während des Michaelifestes deutlich, dass auf genauso sprechende Art die hundertjährige Feier der Weihnachtstagung als Herausforderung und als Ereignis sich näherte. Dieses Ereignis konnte nicht einfach historisch gewürdigt werden, sondern es musste sich um eine Wiedergeburt, eine Weiterführung und eine Verwandlung handeln. Wir mussten versuchen, tiefer in die Quellen zu tauchen und die Formel dafür zu finden. Was war das eigentlich Neue und, vom Standpunkt der Weltnöte betrachtet, das eigentlich Revolutionäre der Weihnachtstagung? Die Tatsache, dass Rudolf Steiner Vorsitzender wurde? Die Gründung einer Weltgesellschaft mit einem Grundstein, der Menschen auf der ganzen Welt aufgrund des universalen Menschenwesens und Menschenbildes vereinen kann, sodass eine Art Wiedergeburt des Menschen und der Menschheit aus dieser Grundsteinmeditation heraus möglich wird? Die Gründung einer genauso weltweiten geisteswissenschaftlichen Hochschule, die auf der Grundlage einer sozial-esoterischen Schulung eine Metamorphose der vorherrschenden Naturwissenschaft in eine geisteswissenschaftliche Praxis möglich macht, konkretisiert in einer Reihe von fachlichen Sektionen? Diese letzte Tat, die man als das eigentliche Vermächtnis von Rudolf Steiners Leben betrachen kann, wurde uns zum Ausgangspunkt für eine neue Tagung. 2019 entstand die Idee, im April 2022 diese Tagung zu realisieren. Die Initiativgruppe war diesmal eine Mandatgruppe, die aus dem Kreis des Vorstands und der Klassenvermittler entstand. Einige Persönlichkeiten von außerhalb kamen noch dazu.

Was wollt ihr mit dieser Idee verwirklichen?

Wir möchten Menschen zu einem oder ihrem geisteswissenschaftlichen Forschungs- und Übungsweg in diesen bedrohlichen Zeiten motivieren und inspirieren. Wir wollen die Idee einer sich steigernden Interaktion zwischen geisteswissenschaftlicher Schulung und Forschung, die der Hochschule zugrunde liegt, ‹genetisch durchleuchten›. Und zwar in einer Vortragsreihe, die von praktischen Beispielen in Arbeits­-gruppen ergänzt wird.

Es gab seit 1885 eine Phase in Steiners Leben und Arbeiten, auf Goethes wissenschaftlichem Werk aufbauend, wo Schulung und Forschung noch eine unzertrennliche Einheit bildeten. So wie Goethes Farbenlehre getan werden will, nicht nur gelesen, will auch Steiners Philosophie der Freiheit durchforscht werden, sie will ‹erschult› und geübt werden, auch wenn darin eigentlich keine Übung vorkommt. Sie lässt die Möglichkeit der Freiheit entstehen aus dem Urphänomen des Denkens, das sich selbst hervorbringt und offenbart, sich selbst erkraftet.

Bild: Wilbert Lambrechts; z.V.g.

Wie kommt man, kam Steiner selbst vermutlich weiter? Indem er meditative Selbstschulung und geistige Forschung vorerst trennt. Diese Trennung und nachherige Wiedervereinigung ermöglicht das wirkliche, methodisch erwirkte Eintreten in die geistige Welt, und so entsteht Geisteswissenschaft. Das Buch ‹Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten› (Schulung) bringt sozusagen ‹Die Geheimwissenschaft› (Forschung) hervor. Auf dieser Ebene ereignet sich durch die individuelle Tat Steiners die Metamorphose von Naturwissenschaft (Haeckels Evolutionsgeschichte) in Geisteswissenschaft (die gemeinsame Entwicklung von Erde und Mensch). Allerdings erfordert dieser Weg die vorherige Schulung, die vorangegangene meditative Übung und Umwandlung.

Die dritte Phase wird dann erreicht während der Weihnachtstagung. Die soziale Komponente kommt hinzu. Schulung (Klassenstunden) und Forschung (Sektionen) werden ‹gesellschaftlich›, also sozusagen ‹Teamwork›. Allerdings werden sie Teamwork im höheren Sinne, was einen erneuten Freiheitsschritt notwendig macht und voraussetzt. Da es sich um ein gemeinsam erlebtes geisteswissenschaftliches Einweihungsgeschehen, eine Einweihungsmöglichkeit der potenziell Forschenden handelt, wird hier bewusst gearbeitet am Aufwachen an der Seele, der geistigen Wesenheit des andern, sein Karma inbegriffen. Man wird Teil eines Karmaforschungsteams, auch wenn es sich um Bäume, Viren oder Musik handelt. Kein Zufall, dass diese Schulung in Steiners Leben simultan möglich wird neben seiner unendlich reichen Karmaforschung (und umgekehrt). Diese soziale Komponente erfordert und ermöglicht auch eine entsprechende soziale Struktur. Die Hochschule kann keine ‹normale› Hochschule oder Universität mehr sein. Sie wird eine verwandelte, freie Universität, eine metamorphosierte, auch im sozialen Sinne. Eine hierarchische Form scheint ausgeschlossen und ist es auch. Auch die soziale Form wird Inhalt und umgekehrt.

Diese Phasen haben wir in Vortragsthemen umgegossen. Armin Husemann wird über den von Steiner vertieften Goetheanismus, Martina Maria Sam über den Schulungsweg und die individuelle Forschung, Matthias Girke über die Idee und Praxis der Hochschule für Geisteswissenschaft sprechen, Peter Heusser über das Verhältnis von Geisteswissenschaft und akade­mischer Forschung.

Dann haben wir 20 Arbeitsgruppen entstehen lassen mit Mitarbeitenden aus den flämischen und den niederländischen Gegenden. Sie versuchen, in konkreten Gebieten sehen und erfahren zu lassen, wie die Wege gegangen werden können.

Kommt noch eine Ausstellung hinzu?

Ja, und eine Buchvorstellung. Tatsächlich haben wir Christoph Hueck eingeladen mit seiner Ausstellung ‹Metamorphose Mensch und Tier›. Es handelt sich hier um ein Forschungsgebiet, das an einer Schlüsselfrage zeigen kann, wie Geisteswissenschaft die Naturwissenschaft weiterentwickeln kann, ohne ihr faktisch und methodisch zu widersprechen. Wie kommt die kulturprägende Evolutionstheorie aus der einseitigen Orientierung heraus? Wir sind schon lange mit den Auffassungen von Louis Bolk, mit der sogenannten Retardationstheorie, vertraut. Sie bestätigt Steiners Andeutungen. Das hervorragende und vielgepriesene Buch ‹Der Erstgeborene› von Jos Verhulst zu diesem Thema, ins Englische und Französische übersetzt, entstand in der Hiberniaschool in Antwerpen, unserem Tagungsort, als Kurs für die 12. Klasse. Es ist ein Modellbuch anthroposophischer Forschung. Wir freuen uns, dass Verhulst auch an der Tagung mit einer Arbeits-­gruppe teilnimmt.

Während der Vorbereitung entdeckten wir, dass genau hundert Jahre vor dem von uns ‹zufällig› gewählten Termin unserer Tagung ein wissenschaftlich-anthroposophischer Kurs in Den Haag stattfand, mit Rudolf Steiner und elf Vertretern und Vertreterinnen verschiedener Wissenschaften. Wir erkannten mit Erstaunen und Begeisterung die Thematik unserer eigenen Tagung in der Haager Tagung von 1922: wie Geisteswissenschaft vermag, die gewöhnlichen Wissenschaften so zu metamorphosieren, dass eine Wissenschaft daraus entsteht, die aus dem Herzen des Menschen kommt und die darüber hinaus Menschen miteinander verbindet, weil sie nichts vorschreibt, sondern in den Herzen Motive für moralisches, individuelles Handeln hervorbringt. Da diese Motive geistiger Natur sind, können sie in ihrer individuellen Verschiedenheit als ergänzend, befruchtend und sozial dynamisierend erfahren werden. Der Kurs wurde eine Inspirationsquelle für unsere Tagungsvorbereitung. Weil er nie ins Niederländische übersetzt wurde, haben wir uns vorgenommen, ihn anlässlich der Tagung zu übersetzen. Es wird der erste vollständige Vortragszyklus Rudolf Steiners sein, die erste GA-Nummer, die als Buch in unserem Land erscheint. Unser kleiner Verlag Via Libra wird das Buch im April herausgeben.


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Bild J. W von Goethe, ‹ Farbenkreis zur Symbolisierung des menschlichen Geistes- und Seelenlebens ›, 1809

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