Die Proteste in Israel zeigen tausendfach die Nationalflagge. Über ein gemischtes Gefühl.
Um die demokratische Staatsform zu bewahren, gehen seit drei Monaten Hunderttausende auf die Straßen. Nach der jüngsten Entlassung des Verteidigungsministers durch den Ministerpräsidenten Netanjahu verschärften sich die Proteste noch einmal. Während eines Treffens am späten Sonntagabend vor einer Woche sprangen die Tel Aviver unter uns plötzlich auf und gingen zu einer spontanen Großdemonstration – einer von denen, die nicht mehr organisiert waren, doch binnen zwei Stunden gefühlt das ganze Land auf die Straßen holte. Überall Sprechchöre und Flaggen. Die Gegner der Regierung haben die israelische Flagge als Symbol des Protestes gewählt, ein Zeichen, das unter den jetzigen Umständen linke und rechte Opposition vereint. Ein Anspruch, der für mich klingt wie: ‹Das ist unser Land, unsere Demokratie.› Es wirft die Frage nach Identität auf. Denn das, was auch das Zeichen der Nation ist und Symbol für die Unterdrückung des palästinensischen Volkes, wird nun zum Zeichen des Widerstands. Der Massenauflauf von Flaggen und Wir-Gefühlen wirkt auch abstoßend auf einige, die sich den Protesten anschließen. Es ist ein politisches Instrument, das den Kampf um die israelische Identität markiert, aber es ist auch ein Schachzug, um Massen zu mobilisieren. Rechtfertigt der Zweck die Mittel? Vom ‹irdischen› Gesichtspunkt aus betrachtet, scheint mir der Griff, nicht nur in Israel, verständlich. Er folgt der Logik politischer Arbeit heute. Auf der anderen Seite erscheint das Ganze auch ein wenig ‹verrutscht›: Gleiches mit Gleichem zu tilgen, erzeugt nur das Alte neu, aber nichts Neues. Wer erschafft dann aber etwas gänzlich anderes, etwas Zukünftiges, das jenseits dieser Kategorien sich öffnet? Die Identität zu behaupten gegen eine Übermacht und gegen einen Übergriff, ist notwendig. Die Grenze ist ein widersprüchliches Mittel. Die Bindung an einen Nationalismus und das Abstecken von fiktiven Identitäten bleibt jedoch etwas Rückwärtsgewandtes.
Titelbild Proteste in Kfar Saba, Israel, März 2023. Foto: Omer Toledano, CC 4.0