Taucher, Wanderer, Flug

Wie ein stiller Weiher breitet sich die Kontemplation in der Seele aus, sie zieht ein in das stille Gemüt, das aufmerksam und geduldig wartet.


Alleine kann man sie nicht hervorbringen. Das Vertrauen ist der sichere Stand auf dem Weg durch diese Welt. Unser Weg durch diese Welt ist ein Greifen durch viele Schleier. Wir ahnen die nächsten Schritte auf unserem Pfad, ohne zu wissen, wie die Welt nach getanen Schritten aussieht, und tasten uns auf dem Pfad vor. Behutsam nehmen wir den nächsten Schleier ab, der vor uns liegt, treten hinter einen Vorhang, als ob wir langsam durch Wasser tauchen. Schieben sein dünnes Tuch beiseite wie ein Taucher, der Wasser beiseiteschiebt, um sich fortzubewegen.

Unter Wasser ist ihm vieles verborgen. Er sieht nicht so klar und hört nicht so deutlich wie an der frischen Luft. Er taucht, taucht und ahnt sich vorwärts durch halbdurchsichtige Wasser. So tasten wir uns vorwärts durch diese Welt. Wir sehen zwar, wie auch der Taucher sieht, aber wir sehen nicht den ganzen Pfad, auf dem wir wandeln, wie der Taucher nur spärlich durch das Wasser sehen kann.

Der Taucher greift ein Seil, an dem er sich durch das Wasser zieht, bis er einen Anker erreicht, an dem es festgebunden ist. Er ahnt sich vorwärts, am Anker vorbei und gerät in eine Strömung, die ihn mit sich zieht. Er dreht sich, schaut nach oben und nach unten, während ihn die Strömung trägt. Sie mündet in ein tiefes Wasser, das dunkel ist, und der Taucher schwimmt langsam voran, schiebt Wasser beiseite, lässt es hinter sich, bis er Sand unter sich erblickt, der immer näher kommt, weil das Wasser seichter wird. Nur noch knietief ahnt er sich vorwärts und greift durch den letzten Schleier, durch die Wasseroberfläche, und er hat einen Strand erreicht.

Die Wellen rauschen hinter ihm, er ist nass und atmet wie neu geboren. Sein Leben lang kannte er nur Wasser und Durch-Wasser-Greifen. Sein Pfad hat auf einmal seine Gestalt verändert und aus dem Taucher ist ein Wanderer geworden. Er geht zum ersten Mal, greift durch die Schleier der Luft, jeder Schritt ist neu, er tritt auf festen Boden, auf Sand, auf Erde. Der Schleier des Windes ist dünn, fast unmerklich greifen die Arme des Wanderers durch den Wind, der zwischen seinen Fingern wie ein leichtes Tuch die Haut sanft streichelt.

Im Wind bewegt sich der Wanderer, ahnt sich vorwärts, schneller als damals, als er noch durch Wasser tauchte. Die Schleier des Windes und der Luft, die vom Himmel herabhängen und durch die der Wanderer sich vorausahnt – er lüftet und lüftet sie auf seine Weise, da sie auf so viele Arten gehoben werden können. Er wandert durch die Schleier des Windes, und sie legen sich wieder über die Welt, nachdem er sie passiert hat. Nach vielen Ahnungen und Richtungen breitet sich vor ihm ein unbekannter Ort aus. Er ahnt, dass seine Schritte bald abgelaufen sein werden, ahnt mit dem Wehen des Windes, dass er nicht mehr lange Wanderer sein wird, noch wenige Schritte bleiben ihm, bis der Boden aufhört und in Luft übergeht. Über die Klippe geht er mit dem letzten Schritt, der am Boden anhebt und sich in der Luft fortsetzt. Der Wanderer spürt, dass er aufhört, Wanderer zu sein, ahnt eine neue Gestalt sich in ihm aufrichten. Er sieht einen Pfad in großer, lichter Weite und geduldig breitet er seine Arme aus, die zu weißen Federn werden. Unsichtbare Flügel tragen ihn fort, weit über alle Berge, Wolken, Sterne. Heim.


Andreas Blaser, M.A. (*1993) hat im Rahmen eines Stipendiums der Anthroposophischen Gesellschaft Deutschland über Kontemplation geforscht. Dabei sind Texte entstanden, die selbst kontemplativ sind. Wir veröffentlichen im kommenden Halbjahr hin und wieder Beiträge aus seiner Sammlung. In ‹Goetheanum› 26/24 erschien daraus bereits sein Text ‹Blick der Menschlichkeit›. Er lebt und arbeitet derzeit in Basel.


Bild Cornelia Friedrich, ‹Begegnung mit dem Licht›, 2012

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