Getrennte Einheiten mit entgegengesetzten Zielen können konkurrieren oder zusammenarbeiten. In beiden Fällen beginnt es mit Trennung – so denkt die moderne Biologie. Was aber, wenn Verwandtschaft elementarer ist als Getrenntsein? Wie ändert, revolutioniert das den Blick auf das Leben?
Da fällt beim Spaziergang eine Amerikanische Weiß-Eiche (Quercus alba) in den Blick. Der Baum ist nicht etwas Isoliertes, sondern verbunden mit der Erde, aus der er herauswächst. Gleichwohl fällt es leicht, ihn als Eiche und nicht als Birke oder Ahorn zu identifizieren. Identität und Verbundenheit mit etwas Größerem geben sich die Hand. Nähern wir uns, achten wir auf Details! Es beginnt ein Gespräch mit diesem Organismus, vielleicht zuerst mit einem Blatt, und wir bemerken die Einladung, bei dem Phänomen zu verweilen, uns darauf einzulassen – die Form genau zu betrachten, sich von ihr bewegen zu lassen. Rhythmisch breitet sich das Blatt aus. Wir folgen dem Muster der Adern, der Art des Grüns. Mit jedem Detail tauchen wir in die Eigenschaften dieses einen Blattes ein, das selbst Detail des Baumes ist.
Da fragt man sich: Wie lebt der Baum jetzt in mir, in meiner Vorstellung? Ich habe mich dem Baum zugewendet und jetzt ist etwas von dem Baum, durch sein Blatt, in mir. Ich kann es immer wieder aufsuchen und in meiner Vorstellung neu bilden, wenn ich mir die Beschaffenheit des Blattes vorstelle, den kurzen, kräftigen Blattstiel, wie die Blattadern sich verzweigen, die Qualität des Grüns – alles in meiner Vorstellung, so sorgfältig wie möglich, um neu zu erwecken, was der Baum in mir hinterlassen hat. Das ist es, was Goethe ‹exakte sinnliche Fantasie› nannte. So beginnen wir, nicht aus der Ferne darüber nachzudenken, sondern mitzuleben und verbunden zu sein. Wir können ein zweites Blatt vom selben Zweig betrachten: Es ist gleich und doch anders. Wir können uns mit der Vielfalt der Blätter von einem Baum befassen und zwischen ihnen hin- und hergehen.
Im Bestimmungsbuch steht: Weiß-Eichenblätter haben sieben bis neun rundliche Lappen und Buchtungen, die 1/3 bis 7/8 der Länge bis zur Mittelrippe ausmachen; eine keilförmige Basis; einen kurzen, kräftigen Blattstiel; eine glatte Oberfläche; eine graugrüne bis hellgrüne Farbe. Wird das dem Blatt, das wir vor uns haben, gerecht? Kaum. Wenn wir nun den Baum als Ganzes bedenken, wie er jedes Jahr seine Blätter verliert, neue Knospen und dann Tausende von neuen Blättern bildet, jedes ein wenig anders und doch ein Blatt der Weiß-Eiche, dann zeigt sich, was für ein kreatives Geschöpf diese Eiche ist, die sich in so vielen verschiedenen Blättern anders darstellt. Und doch drückt sich in jedem Blatt etwas aus, das seine Identität ausmacht.
Schöpferische Potenz
Wenn wir die Details einiger Blätter innerlich bewegen, beginnen wir zu verstehen, dass die Schöpferkraft des Baumes darin besteht, sich in mannigfaltigen Formen zu zeigen und dabei doch er selbst zu bleiben. Diese ‹Einheitlichkeit› ist nicht abstrakt. Es ist eine schöpferische Potenz, die sich in jedem Blatt ausdrückt, aber niemals sich erschöpft in dem, was bereits erschienen ist. Der Baum ist niemals ‹fertig›. Die Potenz ist größer. Die Identität des Baumes ist sinnlich und übersinnlich, sichtbar und unsichtbar. Wir ahnen, was diese Identität ist, wenn wir uns durch die Vielfalt bewegen und beginnen, die vereinigende Geste zu sehen. Je mehr wir an dieser Diversität teilhaben – ich spreche jetzt vom organismischen Leben –, desto mehr zeigt sich die schöpferische Potenz der Natur. Wir gehen vom Produkt, ‹Natura naturata›, zur Teilhabe am Prozess, ‹Natura naturans›.
Wo endet ein Eichenbaum?
Wir können Eichenblätter betrachten, die von zwei diesjährigen Zweigen desselben Baumes stammen. Ein Zweig befand sich der Sonne zugewandt, der andere im Schatten der Krone. Wir bemerken: Die Vielfalt der Formen hängt auch mit dem eigenartigen Phänomen ‹Umgebung› zusammen! Wir sehen, dass der Baum aus seinem eigenen schöpferischen Spiel heraus unterschiedliche Blätter hervorbringt, bezüglich der Welt, in der er und durch die er lebt. Was wir Umwelt nennen, spiegelt sich in dem ‹Anderswerden› des Baumes. Die Zeichnungen zeigen eine Weiß-Eiche, die im Winter am Rande einer Wiese wuchs. Die andere steht im Wald etwa 100 Meter entfernt, im Tal neben einem Bach. Was wir als die ‹typische›, frei stehende Eichenform ansehen, ist somit nur eine Ausdrucksform der Eiche. Die Umwelt befindet sich nicht ‹außerhalb› des Baumes. Jeder Baum, wie jegliche Pflanze, bringt zum Ausdruck, was ich die elementare Lebenswelt nenne – Luft, Wasser, Licht, Wärme, Boden mit Mineralien und anderen Organismen. Ohne diese Lebenswelt würde der Baum nicht sein. Er würde seine Identität nicht realisieren und seine Diversität nicht entfalten.
Zusammengehören – zusammen schöpfen – Sympoiesis
Wenn wir zwischen Organismus und Umwelt unterscheiden, vergessen wir, dass sie zusammengehören. Wir können uns der lebendigen Welt nicht wirklich annähern, wenn wir beides nicht zusammen denken. «Wär nicht das Auge sonnenhaft, Wie könnten wir das Licht erblicken?», schreibt Goethe. Übertragen: «Wäre die Pflanze nicht sonnen-, luft- und wasserhaft, wie könnte sie sich selbst werden?» Es gibt keine wirkliche Trennung, außer in unseren Vorstellungen. Die Welt bedeutet Zusammengehörigkeit, Verbundenheit, und darin gibt es Differenzierung, Vielfalt. Die Identität von etwas ist immer mit einem Größeren verbunden: mit der Welt, zu der es gehört, die es zum Ausdruck bringt.
Noch deutlicher: Eine Eiche wächst aus einer Eichel. Das scheint selbstverständlich zu sein. Es ist richtig. Doch was fehlt, ist die andere Hälfte: Die Umwelt wird zur Eiche durch die Eichel. Wenn wir diese beiden nicht zusammen denken, haben wir keine lebendige Welt, keine ätherische Welt. Wir brauchen die Aufmerksamkeit für die Details – die Qualitäten der Eichel, der Blätter, der Verzweigung des Baumes – die zentrierte Perspektive. Außerdem sollen wir erkennen, dass alles, was ‹zentriert› ist, nur in der Verbindung mit einem Größeren – mit einer peripheren Wirklichkeit – besteht. Deshalb habe ich das Wort ‹Sympoiesis› als Titel gewählt. Donna Haraway, eine Philosophin mit biologischem Hintergrund, hat das Wort 2016 aufgebracht. Es stammt vom Griechischen und bedeutet ‹gemeinsam erschaffen›. Dieses gemeinsame Schaffen ist Kennzeichen des Lebens, in dem Identität und Vielfalt entsteht. Was zusammen schafft, gehört zusammen. Natürlich gibt uns die Zusammengehörigkeit der Dinge Rätsel auf, denn die Zusammenhänge sind in ihrer Fülle nicht zu sehen. Solange wir uns aber – wie in der Biologie üblich ist – getrennte und antagonistische Entitäten in der Welt des Lebens vorstellen, die konkurrieren, kooperieren oder andere Strategien finden müssen, um zu überleben, finden wir nicht zum Rätsel des Lebens.
Wenn wir uns mit der Vielfalt der Formen und Eigenschaften der Organismen und ihrer Zugehörigkeit zur Umwelt beschäftigen, entwickeln wir ein lebendigeres Bild der Organismen. Wir entdecken, zum Beispiel, dass die Vielfalt der Ahornblätter kleiner ist als die der Eichen. Das sagt uns etwas über Eichen und Ahorne. Wenn wir die Beziehungen mit Luft, Licht, Wasser und Boden erkennen, können wir beginnen, uns dem Eichencharakter der Eiche, dem Ahorncharakter des Ahorns oder dem Birkencharakter der Birke anzunähern.
Es gibt 90 Eichenarten in den USA und Kanada und über 150 in Mexiko. Sie unterscheiden sich in Blatt, Rinde, Größe, Form ihrer Kronen und Lebensraum. Einige sind Sträucher, andere aufragende Bäume. Die Blätter mancher Eichen sehen aus wie Weidenblätter, während andere denen von Stechpalmen ähneln. Ein Glück, dass es Eicheln gibt, denn so kann man sicher sein, dass es sich um Eichen handelt. Die Eicheln weisen auf eine Qualität der Identität hin, die nicht so stark mit der elementarischen Lebenswelt verbunden ist. Wenn es wahr ist, dass alles Einzelne zu einem größeren Zusammenhang gehört und diesen Kontext zum Ausdruck bringt – wenn Sympoiesis eine Realität ist –, was ist dann der Kontext für diese tieferen Eigenschaften der Eiche oder des Ahornes? Zu welchen Aspekten der kreativen Welt gehören sie? Was ist der größere Zusammenhang, dem ich mich nur ansatzweise genähert habe und der über die Lebenswelt hinausreicht? Ich habe den Eindruck, dass es eine weitere Dimension der Weltzugehörigkeit gibt, die sich bei fortgesetzter Arbeit und vertiefter Einsicht offenbaren könnte.