Seelische Erkrankungen

Das umfassende Standardwerk von Wolfgang Rißmann weist Wege zu einer gesundenden Therapie seelischer Erkrankungen auf.


Der Autor bezieht selbstverständlich den aktuellen allgemeinen wissenschaftlichen Stand ein: Allein das Kapitel IV zur Menschenkunde basiert auf 663 Quellen aus der allgemein-wissenschaftlichen und der Anthroposophischen Medizin. In beiden Bänden dürften es weit über 3000 Quellen sein, die immer prägnant, kurz und verständlich zitiert werden. Andererseits ist es auch für Laien verständlich geschrieben: Auf über 1600 Seiten erscheint das Lebenswerk eines Arztes nach 40 Jahren Berufserfahrung. Hinter allem steht Rißmanns Frage nach dem autonom werdenden Menschen, seinem Ich und der Handhabung seines Schicksals. So spricht er im Unterschied zu vielen psychiatrischen Autoren und Autorinnen nicht von Störungen, sondern von Erkrankungen, die eben vom Menschen zu lösen sind und Teil seiner Biografie und seiner Reifung werden. Dazu wird konsequent der Standpunkt der ersten Person eingenommen: Was erlebt die bzw. der Kranke selbst, wie kann man sie oder ihn aus dem eigenen Erleben verstehen.

Der erste Band schildert die Grundlagen. Das bescheiden überschriebene Kapitel ‹Aspekte zur Geschichte der Psychiatrie› von etwa 40 Seiten gibt einen soliden Überblick, wie immer in der Geschichte der Menschheit mit psychischen Erkrankungen gerungen wurde. Die deutsche Psychiatrie im Nationalsozialismus beschreibt Rißmann als große moralische Krise. Eine Perle ist das kurz gefasste Kapitel über die Erkenntniswissenschaft und die anthropologischen Voraussetzungen des Umgangs mit dem Geist. Wesentliche neue Zusammenhänge wie das biopsychosoziale Modell, die Systemtheorie oder das ökologische Konzept von Thomas Fuchs werden dabei knapp, aber erschöpfend behandelt. Etwa 200 Seiten widmet Rißmann der anthroposophischen Menschenkunde, der Physiologie des Menschen, der Entwicklung im Lebenslauf und der Frage des Bewusstseins.

Weitere 300 Seiten stellen das Kaleidoskop der Behandlungsformen dar, zum Beispiel äußere Anwendungen, leibbezogene Therapien, die künstlerischen Therapien oder die Heileurythmie, auch die Zusammenarbeit zwischen Seelsorgern, Psychotherapeutinnen und Ärztinnen. Entscheidend für die seelische Gesundheit werden meditative Übungen oder Konzentrationsübungen für eine Selbstentwicklung des Menschen. Dieser Abschnitt ist bereits für sich ein Übungsbuch.

Der zweite Band behandelt spezielle Krankheitsbilder und immer einen ganzen Strauß möglicher Therapien im Einzelnen. Dabei betrachtet Rißmann immer auch Probleme, denen Angehörige begegnen können. Er beginnt mit organischen psychischen Störungen, zugleich mit einer wichtigen Würdigung der Rolle des Gehirns, das Rudolf Steiner in seinem Werk über 2000 Mal anführt. Wichtig ist, dass Rißmann zu den großen Krankheitsbildern jeweils eine grundsätzliche Einführung oder einen Leitgedanken voranstellt, zum Beispiel bei der Demenz oder den Angststörungen. Zentral vor der eigentlichen psychiatrischen Darstellung ist die Schilderung von betroffenen Menschen. Das hilft Therapeuten und auch den überforderten Angehörigen erkrankter Menschen. Zum Beispiel hilft bei der bipolaren Störung (Manie und Depression im Wechsel) die Charakterisierung, dass der Rhythmus abhandengekommen ist. Es wird aber auch die Frage behandelt, wie viel Distanz Menschen der Umgebung brauchen, um nicht zu verzweifeln. Wie können Angehörige Ausgleich und Hilfe für sich selbst erhalten? In den Kapiteln zu Traumafolgestörungen, Schmerzstörungen, zum Autismus-Spektrum des Erwachsenen oder zum ADHS im Erwachsenenalter werden Hilfen angeboten. Zum Verstehen und zum schwierigen Umgang mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung helfen die hervorragenden Schilderungen der Problematik. Hier steht bescheiden am Anfang: «Auf der Suche nach einem Leitgedanken». In den Berichten von Betroffenen heißt es unter anderem: «An einer Borderline-Störung zu leiden, heißt innerlich einsam zu sein, ständig nach Nähe zu suchen und dennoch Nähe nicht ertragen zu können […]. Der Bordie hat ein sehr eigenes Weltbild und versteht die Abläufe und Zusammenhänge von Aktionen und Reaktionen, sowie Abhängigkeiten von verschiedenen Dingen zueinander, sowie die Funktionsweisen der Gefühlswelt von Nicht-Bordies nahezu überhaupt nicht. […] Der Bordie fühlt sich dann sehr einsam und ausgeschlossen, weil er an dem Lachen und Verstehen der anderen nicht teilhaben kann.»

An wen richtet sich das Buch? Dieses Grundlagenwerk schildert die aktuelle ganze Bandbreite seelischer Erkrankungen aus der Sicht der Anthroposophischen Medizin erstmals in dieser Breite nach den Darstellungen von Rudolf Treichler und anderen älteren Autoren. Rißmanns flüssiger Stil macht auch schwierige Erkenntniszusammenhänge gut lesbar und verständlich, zum Beispiel bei der immer wieder dargestellten Evidenz der Anthroposophischen Medizin. Ärztinnen und Therapeuten bekommen eine Fülle von therapeutischen Hinweisen aus der großen Erfahrung des Autors, auch zur spezifisch ärztlich-medikamentösen Therapie. So ist gewissermaßen ein psychiatrischer dritter Band des ‹Vademecum Anthroposophische Arzneimittel› entstanden. Auf der anderen Seite ist ein äußerst hilfreiches Nachschlagewerk auch für medizinische Laien und vor allem für Angehörige aus der Perspektive des freilassenden Arztes entstanden. Es gibt Antworten auf viele grundsätzliche, praktische und alltägliche Fragen. Dieses Werk sollte, gerade wegen seines hohen Preises von 178 Euro, in möglichst vielen Bibliotheken, therapeutischen Einrichtungen oder Ausbildungsstätten stehen.


Buch Wolfgang Rißmann: Seelische Erkrankungen – Verständnisgrundlagen und therapeutische Konzepte der Anthroposophischen Medizin (2 Bände). Salumed-Verlag, Berlin 2025

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