Mysteriendramen an Weihnachten

‹Zukunftsfähigkeiten› lautet der Titel, unter dem die Goetheanum-Bühne vom 26. bis 31. Dezember die Mysteriendramen aufführt. Es gibt ein umfangreiches Begleitprogramm. Mariano Kasanetz vom Priesterseminar in Stuttgart bietet jeden Tag ‹dialogische Einführungen›. Wolfgang Held sprach mit ihm, Christian Peter und Gioia Falk über Kultus und Drama.


Die Sprache der Mysteriendramen ist ja nah am Kultischen – oder wie erlebst du das?

Mariano Kasanetz Als ich das erste Mal in Dornach die Mysteriendramen sah, tauchten diese Fragen auf. Was ist der Unterschied zwischen einem Priester auf der Bühne und einem Priester am Altar? Die machen dasselbe, sehen gleich aus, sagen dasselbe. Was ist der Unterschied? Was ist die Aufgabe des Theaters? Was ist die Aufgabe des heilig gewordenen Theaters als Kultus? Meine Liebe zu den Mysteriendramen entzündete sich damals. Und ich begann, sie zu studieren. Die Mysteriendramen gehen woanders mit der Sprache hin. Der Kultus hat eine größere Breite an Möglichkeiten der Sprache. Im Kultus bin ich in der Opferhandlung drin. In den Mysteriendramen wäre das übergriffig. Die Sprache der Mysteriendramen lässt mich frei im Willen, nicht mitzumachen, sondern ich darf zuschauen.

Wie klingt das in euren Ohren, wenn ihr das hört, Gioia und Christian?

Gioia Falk Das mit dem Willen interessiert mich sehr, wegen der Eurythmie. Da ist auch ein gewisser Willensanteil der Sprache plötzlich sichtbar. Aber ich stelle ihn zur Verfügung, behalte ihn nicht. Es ist im Prozess und nicht von mir besetzt.

Mariano Kasanetz Der oder die Zuschauende fühlt sich frei. Er oder sie muss nicht einverstanden sein. Man kann einfach auf das Leben dieser Menschen schauen und wunderbare Erlebnisse haben. Im Kultus sprechen wir vom ‹Wir›. Das ist eine ganz andere Nuance.

Im Kultus wird man ja als Priester, als Priesterin nicht nach einer Wirkung fragen, während es für die Schauspielenden um eine Wirkung geht, die sie erzielen.

Christian Peter Ich finde es sehr spannend. Es ist freilassender. Wir stellen es hin. Beim Kultus hat es eine andere Verbindlichkeit.

Gioia Falk Wir leben mehr ein Gespräch. Man gibt was hin und man spürt aber auch, was zurückkommt. Es ist eher ein Dialog. Und wie ist es im Kultus?

Mariano Kasanetz Jene, die vorn sind, sind mit den Zuschauenden identifiziert. Man macht stellvertretend für sie etwas und nicht vor ihnen. Da webt eine andere Beziehungsart. Die Bühne ist ein Raum, wo andere Menschen zeigen, wie es ihnen geht. So ist ihr Leben. Das hat durchaus viel mit mir zu tun. Aber ich muss nicht jetzt mit.

Zugleich ist eine Aufführung ohne Publikum nicht denkbar. Sie sind Mitschaffende, es entsteht eine Form von Gemeinde, die aber eben aus dem Freien oder aus dem Einzelnen sich bildet.

Mariano Kasanetz Ich erlebe als Zuschauer der Mysteriendramen ein künstlerisches Mitmachen, aber kein Opfer. Ich bin Teil des Sprachorgans des Theaters als Zuhörer oder Zuschauer, sodass die Bühne zur Bühne wird, also Bühne als Bewusstseinsschauplatz. Steiner sagt sinngemäß: Ich verleihe meinen Bewusstseinsschauplatz, dass das geschehen kann. Aber ich bin nicht mit beteiligt in diesem Leben. Ich lasse den anderen in mir klingen. Aber ich muss nicht der andere sein. In dem Kultus bin ich Mit-Tuender. Ich werde mit geweiht.

Was heißt es, die Mysteriendramen heute aufzuführen, in einer disruptiven, zerrissenen, offenen Zeit? Was heißt es, unter diesen Umständen auf der Bühne zu stehen?

Christian Peter Wir haben wieder eine ähnliche Situation wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Viele Dichter damals hatten dieses Gefühl, dass die Sprache irgendwie missbraucht worden ist und man neue Begriffe finden muss. Wie kann ich in dieser Inflation der Begrifflichkeiten oder Wertigkeiten eine echte Qualität in meinen Ausdruck geben? Wie kann ich die Sprache wirklich authentisch als Mensch gründen?

Kannst du einen Moment beschreiben, wo du das Gefühl hattest: ‹ja, jetzt ist es gelungen›?

Christian Peter Ich kann am Text nichts ändern, aber ich kann mich aufmachen für dieses Mehrdeutige, was wir immer im Theater haben, wo man das abklopft, was dahinter ist. Also nicht einfach Worte sagen, sondern sie neu entstehen lassen aus dem Dialog, aus dem Gegenüber.

Gioia Falk In Begegnung ist sehr viel möglich für uns. Zerstörung ist ja auch nur mit Anonymität möglich, dadurch dass ich keine Beziehung habe. Die Begegnung hat jetzt einen neuen Klang für uns, nicht als Kunstschaffende, sondern als ganzer Mensch. Die Begegnung ist uns etwas Wertvolles. Der Wert in sich ist immer ganz individuell und originär, überhaupt nicht über­tragbar. Aber so, dass er schon in der Probe anfangen kann. Wir machen also nicht eine Wiederaufnahme, sondern wir finden uns wieder und öffnen einen Raum. Es ist eine Einladung zur Begegnung auf allen Gebieten, nicht nur menschlich, auch mit dem Wetter, auch mit einer Verstorbenen. Das kann alles, alles sein.

Wie ist das für euch, so viel mit den Dramen umzugehen? Wie wirkt das auf die eigene Konstitution?

Gioia Falk Der Zugang kann nur individuell sein. Und das sind große Dimensionen, die man langsam entdeckt. Aber es geht doch nur durchs eigene Erleben. So, dass ich plötzlich mit einem Thema getroffen bin und dann aber auch bereit bin, es weiterzuverfolgen, auch wenn ich es vielleicht gar nicht verstehe.

Christian, gab es bei dir so einen Moment in dieser jetzt über 40-jährigen Arbeit an den Mysteriendramen, wo der Himmel für dich besonders aufging?

Christian Peter Die Schlussrede von Benedictus im vierten Drama berührt mich zutiefst. Dieses Vorausblicken in die Zukunft, nachdem alles abgestorben oder gescheitert ist, fühlt sich an wie ein Neuanfang – wie das Durchschreiten eines Nadelöhrs. Besonders bewegt mich die Schlichtheit dieser letzten Szene. Während am Ende der vorherigen Dramen eine Tempelszene steht, sehen wir hier nur noch eine Person auf der Bühne. Es ist, als würde alles auf einen Punkt zusammenlaufen, der eine Öffnung in eine neue Dimension andeutet – eine Dimension, die kaum greifbar, aber spürbar ist. Ich habe diese Dramen sowohl aus der Perspektive Ahrimans über viele Jahre hinweg gespielt als auch aus der von Benedictus, und beide Sichtweisen haben meine Verbindung zu dieser Szene geprägt.

Mariano, du gibst auf der Tagung täglich einen Einführungsworkshop. Was meinst du mit ‹dialogische Einführung›?

Mariano Kasanetz Ich weiß es nicht wirklich. Ich habe vor, einfach für jedes Drama eine Art Perspektive zu bilden, um irgendwie den eigenen Schauplatz öffnen zu können. Das Kunstwerk entsteht in dem Moment mit den Menschen, die da sind.

Auf was kommt es dir an?

Mariano Kasanetz Ich habe mir den Begriff ‹biografischer Realismus› gebastelt. Die Prozesse in den Dramen sind ganz konkret an bestimmten Menschen zu sehen und einmalig. Es wird nicht eine pauschale Gesetzmäßigkeit auf die Bühne gestellt, sondern es werden Leben von Menschen gezeigt, die sich öffnen für die Zuschauenden. Das möchte ich dem Publikum mit den besonderen Aspekten jedes Dramas nahebringen. Also eine Tür öffnen.

Hast du einen Lieblingssatz in den Dramen?

Mariano Kasanetz «Es hat das Schicksal euch verbunden, vereinte Kräfte zu entfalten, die gutem Schaffen dienen müssen.»

Ein Schlusswort. Vielen Dank.


Veranstaltung Mysteriendramen. Zukunftsfähigkeiten. Vom 26. bis 31. Dezember 2024

Bild Vorstellung der Inszenierung der Mysteriendramen, 2023. Foto: Xue Li

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