Malerische Erforschung der Tugenden

Ob Gott, Buddha, Krishna oder Christus, es gibt eine aktive Präsenz, die die Menschen zu Wahrheit, Schönheit und Güte hinführt. Wir können Zugang zu ihr finden, wenn wir uns ihr zuwenden. Wie kann diese Praxis des Sich-Zuwendens aussehen? Eine Praxis für die Heiligen Nächte.


Meine kontinuierliche Praxis kreativer Tätigkeit nimmt zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Formen an. Vor Kurzem führte sie mich zur Erforschung von Tugendhaftigkeit. Was ist sie und wie erlebe ich verschiedene Tugenden und kultiviere sie? Eine kleine Untersuchung über Tugend in verschiedenen Traditionen half zum Einstieg. Im Neuen Testament, Galater (5,22–23), werden Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung erwähnt. Im Alten Testament kann das hebräische Wort ‹chayil› mit ‹tugendhaft› übersetzt werden. Es wird verwendet, um Stärke, Kraft, Macht, Tapferkeit und Würdigkeit zu bezeichnen (Ruth 3,11, Sprüche 31,10). Die zehn Gebote können als Entwicklung von Tugenden angesehen werden (Exodus 20). In Aristoteles’ Rhetorik lesen wir: «Die Formen der Tugend sind Gerechtigkeit, Mut, Mäßigung, Großzügigkeit, Großmut, Freigiebigkeit, Sanftmut, Klugheit und Weisheit.» (Rhetorik 1366b1.) In der hinduistischen Tradition wird eine Reihe von Grundwerten stark betont: Ahimsa (Gewaltlosigkeit), Kontrolle von Geist und Sinnen, Toleranz, Gastfreundschaft, Mitgefühl, Schutz und Respekt für alle Lebewesen und für die Heiligkeit allen Lebens. Im Buddhismus finden wir die Tugenden im Edlen Achtfachen Pfad. Die Sufi-Tradition spricht von den Tugenden des Propheten des Islam, zu denen Eigenschaften wie Liebe und Hingabe zu Gott, Aufrichtigkeit, Mitgefühl, Demut, Geduld, Disziplin und Losgelöstheit gehören. In mehreren afrikanischen Bantu-Kulturen steht das Wort Ubuntu (oft übersetzt mit «Ich bin, weil wir sind») für eine Sammlung von Werten und Praktiken, die Tugenden hervorheben, die sich um Verbundenheit und Menschlichkeit drehen. All diese Traditionen betrachten Tugendhaftigkeit als wichtig für die Entwicklung des spirituell strebenden Menschen. Jeder spirituelle Weg beinhaltet eine Phase der Reinigung, der Selbstbetrachtung und des Strebens, ein besserer Mensch zu werden. Nur durch ein klares Instrument kann der Geist hereingebeten werden.

In ihrem Buch ‹Die Geheimlehre› (1888) ordnete Helena Petrovna Blavatsky den zwölf Sternzeichen zwölf Tugenden zu.1 Als Rudolf Steiner dazu befragt wurde, bestätigte er diese Zuordnungen und fügte als Ergänzung zwölf weitere hinzu, eine zu jeder Tugend.2

Widder Hingabe wird zur Kraft der Aufopferung.

Stier Ausgeglichenheit wird zu Fortschritt.

Zwillinge Beharrlichkeit wird zu Treue.

Krebs Selbstlosigkeit wird zu Katharsis.

Löwe Mitgefühl wird zu Freiheit.

Jungfrau Höflichkeit wird zu Herzenstakt.

Waage Zufriedenheit wird zu Gelassenheit.

Skorpion Geduld wird zu Einsicht.

Schütze Kontrolle über Sprache/Gedanken wird zu Wahrheitsempfinden.

Steinbock Mut wird zur Kraft der Erlösung.

Wassermann Diskretion wird zur Kraft der Meditation.

Fische Großmut wird zu Liebe.

Während einer monatlichen Online-Kontemplation über jede dieser Tugenden, angeboten von der Autorin und Meditationslehrerin Lisa Romero,3 begann ich, mich kontemplativ mit ihnen auseinanderzusetzen. Dabei wurde mir bewusst, welche starke Wirkung sie haben.

Balance halten

In ‹Christus und die menschliche Seele. Über den Sinn des Lebens. Theosophische Moral. Anthroposophie und Christentum› spricht Rudolf Steiner über die Polaritäten, in denen eine Tugend lebt. «Den Schülern der Mysterien wurde gezeigt, dass der freie Wille nur entwickelt werden kann, wenn ein Mensch in der Lage ist, in eine von zwei Richtungen zu irren; weiter, dass das Leben nur dann seinen wahren und günstigen Lauf nehmen kann, wenn diese beiden gegensätzlichen Linien wie die beiden Seiten einer Waage betrachtet werden, von denen zuerst die eine und dann die andere Seite auf und ab geht. Wahre Balance besteht nur, wenn der Querbalken horizontal ist. Ihnen wurde gezeigt, dass es unmöglich ist, das richtige Verhalten des Menschen mit den Worten auszudrücken: Das ist richtig und das ist falsch. Die wahre Vorstellung davon kann man nur gewinnen, wenn der Mensch, der in der Mitte der Waage steht, in jedem Augenblick seines Lebens mal zur einen, mal zur anderen Seite schwanken kann, aber selbst das richtige Mittelmaß zwischen beiden Seiten hält. Nehmen wir die Tugenden, von denen wir gesprochen haben: erstens – Tapferkeit, Mut. In dieser Hinsicht kann die menschliche Natur auf der einen Seite zu Tollkühnheit abweichen … Tollkühnheit ist die eine Seite, das Gegenteil ist Feigheit. Ein Mensch kann die Waage in beide Richtungen ausschlagen lassen.»4

Die Tugend liegt in der Mitte, nicht als Synthese der beiden Extreme, sondern als das Halten der Balance zwischen den beiden Extremen. Ich konnte leichtfertig denken, dass ich ja ein geduldiger, ausdauernder oder mitfühlender Mensch sei. Aber als ich begann, über die Polaritäten nachzudenken, zwischen denen jede Tugend existiert, gewann ich eine neue Erfahrung meiner eigenen Unzulänglichkeiten und damit ein klareres Bild davon, woran ich arbeiten musste. Ich dachte, ich sei mitfühlend, aber als ich hinschaute, sah ich einerseits mein eigenes Desinteresse und andererseits meine erdrückende Besorgnis. Ich hielt mich für geduldig, aber dann bemerkte ich meine Ungeduld und auch meine Lethargie. Ich begann, die Gegensätze zu betrachten, die mit jeder Tugend verbunden sind. Die Gegensätze lassen sich verschieden benennen, aber ich fand sie immer in mir selbst. Auf der einen Seite war ich zu viel, zu locker, zu oberflächlich und auf der anderen Seite zu wenig, zu streng, zu starr.

Im Malen üben

Ich bin Malerin und lerne durch das Malen. Also habe ich eine Übung entwickelt, um zu sehen, ob ich durch das Malen der Transformation zwischen den Polaritäten und der Tugend eine Veränderung in mir selbst bewirken könnte. Während der zwölf Heiligen Nächte habe ich mich jeden Tag mit einer Tugend beschäftigt und versucht, die Polaritäten zu erfahren, in denen die Tugend ihr Zentrum fand. Für mich schien dieses Zentrum eine Aktivität Christi zu sein. Ich versuchte, die Qualität der Aktivität jeder einzelnen Polarität zu spüren. Ich fertigte für jede Polarität eine Skizze auf den gegenüberliegenden Rändern des Papiers an und zeichnete dann in der Mitte eine Geste für die Tugend. Dann verwandelte ich das gesamte Gemälde mit einer Schichttechnik aus Wasserfarben und Collagenpapier zunächst in das Gefühl der Tugend und schließlich in die Erweiterung oder Verstärkung der Tugend. Zum Beispiel gelten Ablenkung und starre Loyalität als die Polaritäten der Tugend der Hingabe. Die Kraft der Aufopferung ist ihre Verstärkung. Ich fragte mich: Wie fühlt sich diese Tugend an? An welchem Punkt gehe ich zur Verstärkung über? Wie leben sowohl die Tugend als auch die Verstärkung in meinem Bild?

Später las ich in Herbert Witzenmanns ‹Die Tugenden. Zwölf Monatsbetrachtungen›: «In Ehrfurcht vor dem Geist in uns und in allen Wesen erheben wir uns zu ethischem Individualismus.»5 Die Entwicklung der Tugenden ist ein Weg nach vorne in unserer unruhigen und verzweifelten Welt. Jede Tugend hat eine etwas andere Qualität, einen anderen Charakter. Indem ich meine Gefühlswelt beobachtete, konnte ich erkennen, was unterschiedlich ist und welche Gefühlsqualität jede dieser Tugenden hat. Während meiner Arbeit wurde mir bewusst, dass die erste Reihe von Tugenden, die Blavatsky identifiziert hatte, Dinge waren, an denen ich selbst arbeiten konnte. Die zweite von Rudolf Steiner hinzugefügte Reihe ist eine Aktivität, die aus dem Geist in mich fließen konnte. Und zwar in dem Maße, wie ich an der ersten gearbeitet hatte. Durch diese Arbeit lernte ich, mich stärker dem mittleren Raum zu widmen. Unabhängig von jeder Tradition oder wie wir diesen mittleren Raum nennen, hat er eine starke Präsenz.


Bild Beispiele aus der Malpraxis von Laura Summer

Fußnoten

  1. H. P. Blavatsky, Die Geheimlehre. The Theosophical Publishing Company, Limited, London 1888.
  2. R. Steiner, Anleitung zur esoterischen Schulung. Forest Row, Rudolf Steiner Press, 2007.
  3. Lisa Romeros Arbeit
  4. R. Steiner, Christus und die menschliche Seele. GA 155, 30. Mai 1912.
  5. H. Witzenmann, Die Tugenden – Betrachtungen. Folder Editions, NYC 1975. Mehr und Kontakt bei Interesse: laurasummer@taconic.net

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