Sozialtherapeutische Gemeinschaften sind Orte für die Gestaltung des Lebens und der Arbeit. Das Forschungsteam der Jugendsektion am Goetheanum widmet sich in einer Studie drei Lebensgemeinschaften, um zu erforschen, wie die Gestaltung von gelebter Inklusion in den jeweiligen Gemeinschaften zur Frage nach zeitgemäßen Lebens- und Arbeitsverhältnissen in sozialtherapeutischen Zusammenhängen beitragen kann.
Menschen sind Erdenwesen, sie bedürfen der Erde, um sich zu entwickeln. Klimakatastrophen, Kriege, Flucht und nicht zuletzt die Coronapandemie lassen die wechselseitigen Interdependenzen deutlich hervortreten: Die Erde ist die Grundlage für menschliches Leben und Arbeiten. Die Beziehungen sowohl der Menschen untereinander als auch diejenige zu ihren Lebensräumen unterliegen seit der Zeit der industriellen Revolution einer immer weiter fortschreitenden Fragmentierung und Isolation: Vormals durch die Arbeit und das Leben in den dörflichen, bäuerlichen Gemeinschaften oder Gewerben in übersichtlichen lokalen und familiären Solidarbeziehungen verbunden, stehen wir heute inmitten der digitalen Transformation gesellschaftlich und individuell vor veränderten Anforderungen in Bezug auf Produktions- und Lebensweise. Im Kontext marktwirtschaftlicher Leistungsorientierung bedeutet dies für jeden einzelnen Menschen die erfolgreiche Bereitstellung der eigenen Fähigkeiten auf dem Arbeitsmarkt. Immer mehr Menschen, überwiegend durch die virtuelle Realität über den ganzen Globus miteinander verbunden, finden sich eingesponnen in ein Netz anonymer, funktionalisierter gesellschaftlicher Teilsysteme, die die vormals direkt menschlichen und an lokale Ressourcen der Erde gebundenen Solidar- und Versorgungsgemeinschaften abgelöst haben. Es scheint, als würden sich Menschen immer stärker von anderen und von der Erde loslösen, ihr Bewusstsein von der Erde verlieren, im Sozialen zur Isolation neigen, während die Fragen nach einem gesunden(den) Umgang miteinander und mit der Erde – die Frage nach der Gemeinschaft mit der Erde – brennend sind. Kann aus Liebe heraus eine neue Verbindung zur Erde aufgebaut werden? Können wir aus der Liebe zur Sache Leben und Arbeit neu gestalten?
Die sozialtherapeutischen Lebens- und Arbeitsgemeinschaften für erwachsene Menschen mit Assistenzbedarf sind Orte, in denen ein Lebens- und Arbeitsraum gebildet werden soll, der heilsam auf den Menschen und auf die Erde wirkt. Es ist eine Vielfalt von Prozessen und Strukturen solcher Dorfgemeinschaften entstanden, sodass weder Generalisierung noch ein direkter Vergleich der Wirklichkeit gerecht wird. Vielmehr sind die zugrunde liegenden Werte und das, was sich aus den diversen Formen entwickelt hat, relevant.
Aktuelle Gestaltung des sozialtherapeutischen Impulses
Dass Arbeit und Leben immer mehr als zwei getrennte Bereiche betrachtet werden, Familie als Bezugspunkt infrage gestellt wird und die Kontinuität der traditionellen Solidarbeziehungen nicht mehr gegeben ist, bedeutet auch für die Organisation des Sozialwesens veränderte Herausforderungen. Die Ausgestaltung der Hilfe- und Fürsorgebeziehungen entwickelte sich in den letzten 70 Jahren zu einem individuenzentrierten Leistungssystem, das nach dem gesellschaftlichen Leitbild damit einhergeht, dass Menschen möglichst für den ‹ersten Arbeitsmarkt› vorbereitet werden. Das hat in den drei Dorfgemeinschaften Altenschlirf, Münzinghof, Sassen-Richthof zu der Frage nach den Quellen von Arbeit und Leben geführt und danach, wie sich der sozialtherapeutische Auftrag für Menschen mit Assistenzbedarf verwirklichen lässt. Der neue gesetzliche Rahmen des deutschen Bundesteilhabegesetzes, der die Partizipation und Inklusion in den verschiedenen Lebensbereichen fordert und messbar machen möchte, erfordert eine Reflexion des Inklusionsgedankens im Zusammenhang mit dem anthroposophischen Menschenbild und wie sich dieser in den heutigen Lebens- und Arbeitsbedingungen umsetzen lässt. Zu diesem Zweck haben die drei Gemeinschaften Münzinghof (nahe Nürnberg), Altenschlirf (nahe Fulda) und Sassen-Richthof (nahe Fulda) vor einigen Jahren kollegiale Treffen eingerichtet.
Das Forschungsteam der Jugendsektion hat, auf Anfrage der drei Gemeinschaften, im Juli 2021 ein partizipatives Forschungsprojekt eingerichtet, um von den Ansätzen zu berichten, die die Dorfgemeinschaften verwirklichen wollen, und ihre Entwicklungspotenziale aufzuzeigen.
Versuch einer heilsamen Sozialgestalt
Die praktischen Ansätze der anthroposophischen Sozialtherapie beruhen auf dem Gedanken, den Menschen in seinem Sein und Potenzial zu betrachten. Statt ausschließlich einem ‹Hilfebedarf› gerecht zu werden, sollen sich individuelle und soziale Fähigkeiten durch das Zusammenleben und die Zusammenarbeit von Menschen mit und ohne Assistenzbedarf entwickeln. Die Wertschöpfungsprozesse und die erlebte Sinnhaftigkeit in der Arbeit der Werkstätten und in der Landwirtschaft, die gemeinsamen Wohn- und Arbeitsformen bilden einen Rahmen, in dem Menschen mit und ohne Hilfebedarf den Alltag teilen und indem gleichzeitig die Fähigkeiten jedes einzelnen Menschen wahrgenommen werden. Die künstlerische und religiös-spirituelle Begleitung und Gestaltung der Tages-, Wochen- und Jahreszeitenrhythmen durch Feste und künstlerische Projekte schaffen einen Rhythmus, der seelische Verbindung zwischen irdischen Notwendigkeiten und geistiger Gedankenwelt stützt.
Entwicklung durch geteiltes Leben
Das Interesse an der Frage, wie wir leben und arbeiten möchten, ist sehr begründet. An vielen Orten der Welt ist die Form und Art von Leben und Arbeit nicht unbedingt eine freie Entscheidung, sie wird durch die Umstände der Umgebung und soziale Kontexte vorgegeben. Man könnte es daher als Privileg betrachten, diese Frage überhaupt zu stellen. Verstärkt durch die Pandemie der letzten zwei Jahre, hat der Wunsch nach einer sinnvollen Arbeit und einem Leben in Einklang mit der Natur neue Aufmerksamkeit bekommen. Die Suche nach einem Zusammenhang, der diese Aspekte in gemeinsamen Formen ermöglicht, ist für Menschen, die zu den Gemeinschaften kommen, ein Hauptmotiv. Nicht nur das Zusammenleben im Ländlichen, umgeben von viel Grün, Wiese und Wald zieht an, besonders das Wohnen in einem ‹Familienhaus› ist entscheidend. Hier leben Menschen mit und ohne Assistenzbedarf verschiedener Generationen zusammen in einem Haushalt, pflegen und gestalten das Miteinander zusammen in Begleitung von Hausverantwortlichen (oft ein Paar oder eine Familie mit eigenen Kindern).
Innerhalb des sozialwissenschaftlichen Diskurses und der Sozialgesetzgebung (Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen – BTHG) ist das Leitbild der ‹Selbstbestimmung› und die Möglichkeit zur Realisierung eines eigenen Lebenskonzeptes maßgeblich für die Unterstützungsstrukturen für Menschen mit Assistenzbedarf. In den anthroposophischen Gemeinschaften wird versucht, ein ganzheitliches Verständnis des Menschen zu pflegen, das das biopsychosoziale Menschenbild implizit um die geistige Dimension erweitert. Die Anerkennung des geistigen Wesenskerns schafft einen Raum für den Entwicklungsimpuls jedes Menschen, in dem sich die Biografie als Ausdruck des individuellen und gemeinsamen Schicksals gestaltet. Die aufmerksame Begleitung achtet auf diese ermöglichenden Entwicklungsbedingungen für den Einzelnen. Indem die Menschen in der Gemeinschaft einen großen Teil ihrer Biografie miteinander teilen, wird in einem übersichtlichen sozialen Zusammenhang ein Raum gebildet, der Sicherheit und Kontinuität im Zusammenleben als Grundlage schafft, um neben dem Alltäglichen auch die tieferen persönlichen Entwicklungsfragen anzuschauen, die über vorhandene Fähigkeiten und Hindernisse hinausgehen. Auf dieser Ebene des Menschseins wird kein Unterschied gemacht zwischen den Menschen mit und ohne Hilfebedarf.
Das Zusammenleben bildet in den Gemeinschaften eine tragende Säule im Rahmen eines sozialtherapeutischen Auftrages. Die Formen, die es annimmt, reichen in den drei Lebens- und Arbeitsgemeinschaften vom ursprünglich gegründeten ‹Hauselternmodell› über individuelles Wohnen mit Anschluss an eine bestimmte Hausgemeinschaft, Pflege ermöglichende Wohneinheiten bis hin zu Wohngemeinschaften, wo in Absprache mit allen Bewohnenden des Hauses der Alltag gestaltet wird. Diese Möglichkeiten wurden in den letzten Jahren an den drei Lebensorten ausgebaut, als Antwort auf die Bedürfnisse und Notwendigkeiten der Menschen. Darüber hinaus nimmt jedes Haus, auch wenn es einer der oben genannten Formen entspricht, eine ganz individuelle Gestalt an. Sicherlich sind diese Modelle nicht für alle Menschen eine Option. Sie bieten jedoch eine alternative Lebensform, die einlädt, an einer gemeinsamen Entwicklung teilzunehmen.
Für die Hausverantwortlichen und Mitarbeitenden ist die soziale Dienstleistung damit auch ein Teil ihres eigenen Lebens, ihres ‹Familienlebens›. Dieses Ineinanderfließen von Arbeit und individuellem privatem Leben kann zu einem bewussteren Umgang mit den Fragen nach den Grenzen, der inneren Qualität und dem verbundenen Sinn anregen.
Arbeit als Ausdruck verwirklichter Impulse
Aus Landwirtschaft und Gärtnerei quillt Leben in die Gemeinschaften: Im Rhythmus der Natur liefern die Erzeugnisse nicht nur eine gesunde Nahrungsgrundlage und in der Weiterverarbeitung der Produkte eine Einnahmequelle. Sie haben im Mitvollzug der großen Kreisläufe, der Prozesse des Zusammenwirkens und der kultivierenden Pflege der Erde heilsame Wirkung. Weltzusammenhang, Selbstwirksamkeit und sinnvolles Tun werden auch in der Arbeit in den Werkstätten erlebbar: In der kunsthandwerklichen Gestaltung und Verarbeitung vielfältiger Produkte kann jede oder jeder Mitarbeitende die eigenen Fähigkeiten den Neigungen entsprechend einbringen: Die ‹Schaffer› versorgen die Scheitholzanlage mit Holz und so die Häuser der Gemeinschaft zuverlässig und nachhaltig mit Wärme, in der Kerzenwerkstatt wächst die Bienenwachskerze durch geduldige Ruhe eine Millimeterschicht nach der anderen. So entstehen hochwertige, sinnvolle und künstlerische Produkte, die Ausdruck des schöpferischen Potenzials des Menschen sind. Die eigene Arbeit so zu erleben, kann den Mitarbeitenden Selbstvertrauen schenken und eine wichtige Identifikation mit einem Beruf bieten, die für die eigene Biografie prägend ist. Daher ist es auch ein besonderes Anliegen in den Gemeinschaften, den Wert der Werkstätten und der Landwirtschaft nicht aus der kapitalistischen Effizienzlogik zu bewerten, sondern die Qualitäten der Arbeit für die Menschen und die Umwelt in den Vordergrund zu stellen. Über den Warenaustausch, die Märkte und das Ausführen von Aufträgen stehen die Gemeinschaften auch mit Betrieben, Geschäften und Menschen in der Region in Verbindung und strahlen so das Gemeinschaftsleben weiter in den Umkreis.
Gemeinsames soziales Übungsfeld
Die Form der Organisations- und Führungsstruktur in den Gemeinschaften als selbstverwaltete Organisationen ermöglicht und erfordert ein hohes Maß an individueller Verantwortung und Initiative. ‹Arbeit› wird hier zu gemeinsamer Aushandlung und eigenverantwortlicher Übernahme von Aufgaben, um die vereinbarten Anliegen zu verwirklichen. Die Freiheit, eigene Impulse im Kontext der Gemeinschaft zu verwirklichen, die Möglichkeit des Mitgestaltens in verschiedenen Arbeitsgruppen und Bereichen sowie die freie Gestaltung des Lebens in den Häusern wird von vielen Menschen in der Gemeinschaft als sehr wichtig empfunden. Auch für die Menschen mit Assistenzbedarf werden in verschiedenen Formen und Gremien sowohl auf individueller Ebene als auch durch Interessenvertretung Selbstbestimmung und Mitgestaltung ermöglicht und geübt.
Diese Art des Zusammenlebens und -arbeitens bedarf einerseits einer Haltung der Verantwortung für das Ganze, die immer den anderen im Blick hat und die eigenen Bedürfnisse mit denen der anderen in einen Ausgleich zu bringen sucht. Andererseits wird Vertrauen als tragende und ermöglichende Kraft sichtbar, die das Arbeiten auf freier Initiative und Selbstbestimmung erst ermöglicht. So wird Gemeinschaft zu einem individuellen und gemeinsamen Übungsfeld, in dem sich Inklusion und Teilhabe im Alltagsleben und in der Arbeit in einem dialogischen Fluss gestalten.
Orte zur Auseinandersetzung mit grundsätzlichen Fragen des Menschseins
Im Rahmen des Forschungsprojektes der Jugendsektion haben wir die Teilnehmenden nach der Gemeinschaft als Lern- und Entwicklungsort befragt. Die Übergänge zwischen Arbeit und Leben bewegen sich fließend im Spannungsfeld von bewusst gesetzter Abgrenzung in klare Aufgabenbereiche und frei ergriffener Initiative. Die Aushandlungsprozesse stellen einen gemeinsamen sozialen Schulungsweg dar.
Auch das Leitbild einer gleichberechtigten und inklusiven Gesellschaft kann in den Gemeinschaften näher betrachtet werden. Lange Zeit wurden Menschen mit Assistenzbedarf vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Dies hat sich – auch als bewusstes Umdenken nach dem Horror der NS-Zeit – allmählich verändert, die medizinische Sicht auf ‹Behinderung› als Funktionseinschränkung wurde erweitert um die Anerkennung der sozialen Dimension und hat schließlich zur Etablierung der Rechte für Menschen mit Behinderung als Menschenrechte geführt. Das Wunsch- und Wahlrecht des Lebensortes, die selbstbestimmte Gestaltung des Tags und der Freizeit und die möglichst barrierefreie Teilhabe am öffentlichen Leben sind als Ausdruck der vollumfänglich anerkannten Gleichberechtigung und Menschenwürde der Betroffenen im Bundesteilhabegesetz verankert. Vor dem Hintergrund weltweit zunehmender Ungleichheit und damit einhergehender Konfliktpotenziale ist der gesellschaftliche Diskurs um Inklusion und Teilhabe ein wichtiger Aspekt im Ringen um menschenwürdige und nachhaltige Gestaltung des Sozialen. Sozialtherapeutische Dorfgemeinschaften sind eine mögliche Sozialgestalt, deren selbstverwaltete Organisationsstruktur sich auf freie Initiative und solidarische Zusammenarbeit stützt. Ihre anthroposophischen Ursprungsimpulse sind in den Ansätzen der Heilpädagogik und Sozialtherapie ein Gegenentwurf zur Heimunterbringung und der medizinischen Sichtweise auf Behinderung. Teilhabe und Partizipation werden hier gemeinsam von Menschen mit und ohne Assistenzbedarf zu Formen des Lebens und der Arbeit gestaltet, die Menschen und Erde gesunden. So lassen sich Lebens- und Arbeitsgemeinschaften als Forschungsorte betrachten, in denen zukunftstragende Impulse der Schicksalsgenossenschaft geübt werden und Handlungswissen für nachhaltige Entwicklung in einer gleichberechtigten Gesellschaft gewonnen wird.
In einem nächsten Beitrag wird das Forschungsteam diese Ansätze aus der Zusammenarbeit mit den drei Dorfgemeinschaften anhand der Ergebnisse weiter ausarbeiten.
Die Gemeinschaften des partizipativen Forschungsprojektes:
Gemeinschaft Altenschlirf
Verein Gemeinschaft für Heilpädagogik und Sozialtherapie
Gemeinschaft Münzinghof
Verein Die Lebensgemeinschaft
Gemeinschaft Sassen und Richthof
Verein Lebensgemeinschaft