Leben mit der Erde

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Es gibt ein großes Geheimnis, das die ganze Menschheit wie eine Hülle umgibt. Es mag pathetisch klingen, aber: Es ist ein Mysterium. Ein Mysterium ist etwas, was nicht ausgesprochen wird. Was ich hier sage, weiß jeder und niemand sagt es: Trotz der unglaublichen Errungenschaften, die wir in Natur- und Geisteswissenschaft gemacht haben, vermag niemand zu sagen, was das Leben ist.


Vielen Naturwissenschaftlern und Forscherinnen, denen ich begegne, stelle ich die Frage: Was ist das Leben? Wo kommt es her? Wo geht es hin? Keine Antwort. Wir können beschreiben, wie es gedeiht, auch wie es vergeht. Aber nicht, was es eigentlich ist. Wer es geschaffen hat, bleibt ein Geheimnis. Wenn ich ein bisschen kämpferisch reden darf, würde ich sagen: Es ist ein geheimer Gottesbeweis. Denn wenn es niemand weiß, wer soll es denn gemacht haben? Und dieses Geheimnis möchte ich beleuchten in Bezug auf die Erde und uns Menschen.

Drei Leben

Mir ist aufgefallen, dass es im Deutschen nur einen einzigen Begriff für Leben gibt, nämlich Leben. Die altgriechische Sprache, in der zum Beispiel das Neue Testament geschrieben worden ist, kennt drei Begriffe für Leben. Da gibt es ‹bios›, das betrifft das Leben der Pflanzen, die kein Bewusstsein haben. Das zweite Wort lautet ‹zoae›, was zum Wort Zoo geführt hat. Das würde ich übersetzen mit ‹Seelenleben› – anthroposophisch: das ätherische Leben, das die Pflanzen haben, und das astralische Leben, das Tier und Mensch besitzen. An zwei bedeutenden Stellen im Evangelium, im Prolog des Johannesevangeliums heißt es ‹zoae›: «In diesem war das Leben.» Da steht nicht ‹bios›, da steht ‹zoae›, das Seelenleben, das bewusste Leben. «Und das Leben war das Licht der Menschen.» Und dann gibt es noch einen dritten Begriff, der auf das Ich als Unsterbliches angewendet wird: ‹aion›. Daher kommt unser gebräuchliches Wort Äon, das ewige Leben, das unsterbliche Leben, das unvergängliche Leben.

Ich finde es für Biologen wichtig zu wissen, dass wir mit ‹bios› eine entscheidende Schicht des Lebens haben, aber nicht das ganze Leben. Ich meine das bewundernd und nicht irgendwie einschränkend. Hartmut Rosa hat in seinen Büchern den Begriff des ‹Unverfügbaren› geprägt. Damit ist all das gemeint, was man nicht kaufen kann. Dazu gehört beispielsweise das Glück. Niemand kann Glück vorhersehen. Niemand weiß, ob ein Treffen mit einem Menschen, auf das ich mich jahrelang gefreut habe, wirklich so wird, wie ich es mir gewünscht habe. Da kommt immer etwas Unverfügbares hinzu. Und diese Geheimnisse, die um solche Bereiche des Lebendigen sind, umgeben auch unsere Erde wie eine Aura.

Die Botschaft des Lebens

Sie ist ein Wesen, das durchmessen und erforscht, doch von einem Mysterium umgeben ist, das sie schützt, das sie trägt, das sie birgt, das ihr hilft. Von den sieben Lebensprozessen möchte ich drei Bereiche schildern, die mir in den Lebensvorgängen ganz besonders deutlich geworden sind, weil ich sie beobachtet habe. Was sind denn die Kennzeichen des Lebens überhaupt? Der Atem! Am Bett eines Menschen zu stehen, der sich zu sterben anschickt, und auf dessen letzten Atemzug zu warten. Da nimmt man teil an diesem Prozess mit seinem ganzen Menschsein, mit Leib, Seele und Geist. Man wird zu diesem Atem und wartet mit zitterndem Herzen. Dann wird der Atem langsamer, geht in ein Stocken über, setzt aus und kommt wieder. Da entdeckt man, wie kostbar der Atem ist. Wenn der letzte Atemzug getan ist, dann tritt eine Stille ein, die nirgends sonst in der Welt verfügbar oder herstellbar ist. Da wird es so still, dass man plötzlich seinen eigenen Atem hört. Und man merkt in diesem Moment, wo das Leben beendet ist, was für Räume sich da auftun, die vorher das Leben ausgefüllt hat. Und ebenso ist es umgekehrt, wenn ein Mensch geboren wird und seinen ersten Atemzug tut. Wie das ganze Leben eigentlich von diesen kleinen Wesen eingeatmet wird. Ein Schrei bekundet: Ich habe meinen Atemzug getan. Da merkt man das ganz Umfassende, das Weltumspannende, Lebendige und wie es den ganzen Menschen betrifft, dass wir atmen. Das ist die Botschaft des Lebens, der Atem. Es verwundert nicht, dass in der Schöpfungsgeschichte eben der Atem gleich heißt wie Geist: ‹pneuma›. Der Atem Gottes schwebte über dem Urgewässer, bevor das Leben sich erzeugte. Das ist ein kosmisches Atemholen. Und so wie der Mensch atmet, so atmet die Erde im Großen, in jedem Augenblick.

Ein zweites Kennzeichen ist die Bewegung. Die Erstarrung im Leben ist eine starke Kraft. Sie unterscheidet sich stark von der Erstarrung, die zum Beispiel die Technik hat, in der es weder Atem noch Bewegung gibt. Diese Erstarrung, die wir sehen, wenn ein Gewässer in der Winterzeit in Eis übergeht. In Berlin, meiner Heimat, gibt es große Seen, die mitten in die Stadt reichen. Da war ich unterwegs, in einem Moment im Advent, als plötzlich die spiegelnde, ruhige Wasseroberfläche eine Art Haut bekam. Da sind Verfestigungskräfte, die das Lebendige des Wassers in die Stille, in die Starre bringen. Aber daran ist zu merken, wenn man es mit dem Herzen sieht, dass diese Erstarrung das Gegenteil in sich trägt. Das ist nicht endgültig, wie wir am Wasser sehen können, es wird wieder flüssig.

Also das zweite Kennzeichen des Lebens ist die Bewegung und im Menschen der Herzschlag. Danach schaut man, wenn ein Mensch ins Krankenhaus eingeliefert wird: Atmet er und schlägt das Herz? Der Puls ist auch Verkündiger des Lebens. Man lernt viel vom Leben, wenn man auf Herz und Atem hört, und doch weiß man nicht, wer das Leben gemacht hat – aber man ahnt es.

Es gibt noch einen dritten Bereich, der mir in den Lebensprozessen der Erde am auffälligsten ist. Das ist die Schönheit der Erde. Es gibt unglaubliche Anblicke, die in unserer Zeit unter die Haut gehen, weil wir uns hier und da fragen: Wie lange wird es das noch geben? Wie lange wird es so eine Baumallee noch geben? Wie lange wird es noch Sonnenuntergänge von dieser Schönheit geben? Die Dämmerung, die leisen Vorgänge der Schönheit, die es in den verschiedensten Sinnesprozessen gibt. Die Erde ist unendlich schön! Wo man auch hinkommt, überall auf der ganzen Erde, ist sie schön – schön für den Menschen. Wer hat sich diese Schönheit ausgedacht? Wer ist der Regisseur dieser Schönheit? Das sind die drei Aspekte des Lebendigen, von denen das Ätherische, das Seelische und auch die geistigen Bereiche des Menschen von der Erde dauernd unterhalten werden, mit ihr verbunden sind.

Was verdanken wir eigentlich am meisten der Erde? Wir verdanken der Erde, dass sie uns einen festen Halt gibt, dass wir auf ihr stehen können, dass wir uns auf ihr aufrichten können. Und das heißt, dass wir ein Ich ausbilden können. Denn das Ich hängt mit dem Aufrichten zusammen. Der Mensch ist das einzige Wesen auf der Erde, das sich dauerhaft, nicht nur vorübergehend, aufrichten kann.

Das kleine Kind sagt erst ‹ich› zu sich selbst, wenn es sich aufrichten kann. Vorher nennt es sich bei seinem eigenen Vornamen. Das Ich-Sagen und das Ichbewusstsein sind mit dem Aufrichten verbunden. Und diese Aufrechte ist auch mit der Aufrichtigkeit, mit der Wahrheitsfähigkeit verbunden. Und das verdanken wir der Erde, und wir verdanken es organisch unserer Wirbelsäule, die es uns ermöglicht, uns aufzurichten.

Das Nächste, was ich nennen möchte, was wir der Erde verdanken, ist natürlich die Nahrung. Dieses unglaubliche Geschenk nehmen wir so auf, dass wir es in uns selbst aufnehmen. Die Nahrung teilt sich uns vollkommen mit und wir verwandeln dadurch, dass wir die Nahrung der Erde aufnehmen, ein Stück von der Erde. Wir verwandeln damit Erde und geben ihr dadurch etwas zurück, was sie uns im Schenken der Nahrung gibt. Und ich finde deswegen dieses Tischgebet, was Rudolf Steiner uns gegeben hat, was eben nicht seelisch ist, nicht nur Dankbarkeit ausdrückt, sondern der Erde zuspricht, was sie uns durch die Nahrung ist.

Es keimen die Pflanzen in der Erdennacht,
Es sprossen die Kräuter durch der Luft Gewalt,
Es reifen die Früchte durch der Sonne Macht,
So keimet die Seele in des Herzens Schrein,
So sprosset des Geistes Macht im Licht der Welt,
So reifet des Menschen Kraft in Gottes Schein.

In diesem Tischgebet ist die Verbindung, die Lebensgemeinsamkeit zwischen Erde und Mensch so deutlich, weil nicht von Bitten, sondern von Tatsachen die Rede ist.

Dadurch, dass wir uns mit der Erde vollkommen verbinden, haben wir das Leben, sodass wir sie in uns aufnehmen und ihr dadurch etwas zurückgeben, was sie braucht. Wir wissen aus der Anthroposophie, dass Menschen und auch die Erde selbst durch frühere Verkörperungen gegangen sind. Bei jeder Erdverkörperung haben wir Menschen ein Wesensglied dazubekommen.

Und die Erde ist derjenige Planet, auf dem wir unser Ich ausbilden. Das ist unser jüngstes Wesensglied. Und das können wir nicht ohne die Hilfe der Erde. Sie ist in uns wohnhaft durch unsere Sinne. Die Ich-Organisation des Menschen wirkt durch unsere Sinne. Ich bin auf einem Landgut in der Mitte von Deutschland aufgewachsen, wo ich ganz den Sinnen hingegeben war. Deshalb war ich vollkommen behütet vom Krieg. Da habe ich die Welt mit meinen Sinnen erobert. Ich erinnere mich an die Ställe, ihre Gerüche und Geräusche. Das Merkwürdige ist: Das geht nicht weg. Bis ins hohe Alter nicht. Diese Wahrnehmungen, die ich da gemacht habe, haben meine Lebenskräfte bis in mein hohes Alter gestärkt und tun es noch. Es ist die Erde, das Urgesunde, das unter unseren Füßen ist und uns den Halt gibt und die Aufrichte gibt und die Sinnesorganisation stärkt und uns ja trägt und birgt und schützt.

Dazu kommt der Jahreslauf als Atemvorgang der Erde, wo die ganze Erde im Laufe eines Jahres einen großen Atemzug tut. Und dass der Mensch selbstverständlich da, wo immer er auf der Erde auch lebt, diesen Atem mitmacht. Wir sind im Sommer hier in unseren Breiten, wo wir wohnen, nicht so gut inkarniert wie im Winter. Im Sommer träumen wir lieber. Das machen wir mit.

Die Ich-Gebärerin

Die Madonna als Apokalyptische Frau, 1390–1400, Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie © Public Domain

Hier zeige ich nun ein Gemälde, das in der Berliner Gemäldegalerie hängt. Es stammt aus dem 16. Jahrhundert, wobei der Maler unbekannt ist. Es zeigt nicht die Madonna, sondern das ist die sogenannte ‹Frau mit der Sonne bekleidet› aus der Apokalypse, die das Ich hervorbringt. Die Ich-Gebärerin. Das ist eine geheimnisvolle Geschichte. Diese Frau, die durch verschiedene Religionen geht, die als Isis den Horusknaben hervorbringt, als Mutter von Jesus erscheint und zugleich über diese Zuschreibungen hinausgeht, weil sie eine Zukunftsgestalt ist, die dieses Kind für die Menschheit gebiert und die uns hilft, auf der Erde unser Ich zu gebären. Das Besondere an diesem Bild ist, dass ihr dieses Kind gleich weggenommen und vor Gottes Thron gerettet wird, weil der Drache hinter diesem Kind her ist, so wie der Drache hinter dem menschlichen Ich her ist. Dieses Kind ist weder männlich noch weiblich, das ist ein Kennzeichen des Ich. Die anderen Wesensglieder, die wir auch ausbilden, die ich schon genannt habe, haben männliche und weibliche Ingredienzien. Das Ich ist Geist, und das, was wir da zu gebären im Begriff sind, womit die Zukunft beginnt, die Apokalypse des Menschen, ist hier auf diesem Bild dargestellt.

Die Frauengestalt hat zu ihren Füßen den Mond und ist umgeben von der Sonne. Daran kann man erkennen, wer sie ist. Sie hat um sich die Sonne als Aura und kündet von der Geburt des Ich, das sich langsam anschickt, unsterblich zu werden und mit ihm die Erde. Wir wären keine Ich-Menschen, wenn wir keine Ziele hätten. Das Ziel gehört zum Ich, dass ich weiß, wohin ich will, dass ich weiß, dass ich unterwegs bin. Da gibt es eben im letzten Buch der Apokalypse zwei Ziele in großen Imaginationen. Die hat Rudolf Steiner beim Namen genannt: Freiheit und Liebe. Die werden das Leben des Menschen und das Leben der Erde und auch ihre Seele an das Ziel bringen, wodurch es nach dem Erdenleben weitergehen kann. Und die Freiheit ist abgebildet dadurch, dass es im himmlischen Jerusalem keinen Tempel mehr gibt. Der Mensch braucht dann keinen Tempel mehr, weil Gott in ihm ist. Und die Liebe ist abgebildet in der Hochzeit im himmlischen Jerusalem von Braut und Lamm. Denn Liebe und Freiheit zu vereinen, dazu sind wir noch kaum fähig – zu lieben und in vollkommene Freiheit zu entlassen. Was wir lieben, möchten wir mit Sinnen fassen. Die Liebe als unser Ziel wird anders ausgerichtet sein, wenn sie vollkommen von der Freiheit durchdrungen ist, und die Freiheit wird nicht mehr um die eigene Freiheit gehen, sondern sie wird nur noch von der Freiheit des anderen durchdrungen sein, eben mit Liebe. Es ist sehr gut, wenn wir dieses Ideal aus der Apokalypse vor Augen haben und daran erkennen, wohin wir unterwegs sind, was uns noch fehlt, wohin wir noch schauen. Wenn wir das geschafft haben, wenn Freiheit und Liebe in uns gemeinsam Wirklichkeit werden, dann wird es nicht mehr wichtig sein, wie wir unseren Gott nennen. Dann wird es einen Menschheitsgott geben und eine Menschheitsreligion.

Laut der Bibel und dem Alten Testament entstammt die Menschheit aus einem Garten und mündet in einem durchkristallisierten himmlischen Jerusalem. Diese Stadt ist ein Thron und auf diesem Thron sitzt das Lamm, und unter diesem Thron entspringt ein Fluss. Und dieser Fluss, der da entspringt, bildet einen neuen Garten und da sind Bäume, die alle zwölfmal im Jahr Früchte tragen. Und diese Früchte sind Heilmittel, Heilmittel für unsere Worte. Dann werden wir anders sprechen, werden uns immer verstehen. Dafür dienen die Blätter an diesen Bäumen. Die Menschheit wird wieder in einem Garten enden.

Was ohne Götterhilfe geschieht

Und jetzt kommt das Letzte, was ich sagen möchte, aus Rudolf Steiners Vortragszyklus ‹Welt, Erde und Mensch›, GA 105: Er spricht da von Göttern, Menschen und der Erde. Erst durch die Ich-Entwicklung gebe es überhaupt die Liebe. Nur das Ich ist im höheren Sinne liebesfähig. Die Liebe entspringt dem menschlichen Ich. Die Götter träufeln diese Liebe den Menschen, die auf der Erde leben und an ihrer Ich-Erzeugung sind, ein. Wir erhalten etwas aus dem Himmel, wenn wir auf der Erde sind und unser Ich unter Schmerzen und Mühen in unserem Schicksal ausbilden. Das ist die Liebe, die von den Göttern kommt. Daraus entsteht im Menschen Dankbarkeit. Ein großes, gewaltiges Erntedankfest. Und diese Dankbarkeit steigt unsichtbar auf zu den Göttern. Das ist das Urbild von Kultus. Und dadurch – man glaubt es kaum – lernen die Götter erst die Liebe. Sie lernen die Liebe von den Menschen.

Es ist wie ein Geschenk. Die Liebe wird auf der Erde von den Göttern in den Menschen entzündet, sodass die Menschen imstande sind, die Liebe erleben zu lernen. Und die Götter lernen die Liebe, die Liebe als Realität, erst durch die Menschen kennen. Ja, wir wissen, dass die Götter etwas entbehren, wenn die Menschen nicht in Liebe leben. Je mehr Liebe der Mensch auf der Erde hat, desto mehr Nahrung haben die Götter im Himmel. Wir haben nicht nur zwei Ziele, die Freiheit und die Liebe auf der Erde zu entwickeln. Das sind ja Gaben, wie wir sehen. Die dritte apokalyptische Aufgabe, die wir haben, wird in der Apokalypse durch die zwölf Edelsteine dargestellt. Die zwölf Edelsteine sind die vergeistigte Erde, die nicht von allein entsteht, sondern durch die Arbeit der Menschen, die Arbeit an der Erde, die Arbeit im Karma an uns selbst. Freiheit und Liebe können wir nur durch Gaben erringen. Aber die Arbeit an der Erde ist unsere Aufgabe.


Titelbild Mechthild Oltmann, Foto: Xue Li

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