Keim der Geistesschau

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Diese Zeilen möchten eine Brücke von der ‹Philosophie der Freiheit› zur Geistesschau schlagen und darauf hinweisen, dass zwischen den erkenntniswissenschaftlichen Schriften und übersinnlicher Erkenntnis kein wissenschaftlich fundierter Bruch gefunden werden kann. Denn in Steiners Philosophie sind die höheren Stufen veranlagt.


Mathematik ist die Vorschule des sinnlichkeitsfreien Denkens. Darauf legte schon Plato großen Wert. Es bezieht sich die Mathematik auf sinnliche Bereiche, der Prozess jedoch vollzieht sich im sinnlichkeitsfreien Bereich von mathematischen Zusammenhängen. «Lerne in der Mathematik, dich freizumachen von den Sinnen, dann kannst du hoffen, zur sinnenfreien Ideen-Erfassung aufzusteigen – das wollte Plato seinem Schüler einprägen.»1

Denken als höhere Erfahrung in der Erfahrung

In den ‹Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung› weist Rudolf Steiner im Kapitel ‹Das Denken als höhere Erfahrung›2 auf eine tiefer liegende Schicht im denkenden Erleben, als das im alltäglichen Gewohnheitsdenken der Fall ist. Die Ausnahmestellung des Denkens besteht darin, dass die unmittelbare Erfahrung bereits gesetzmäßige Bestimmung ist. Das ist bei der Wahrnehmung nicht der Fall. Letztere wird als ein unbestimmtes, in sich differenziertes Nebeneinander im Raum und in der Zeit ohne jeglichen Zusammenhang erfahren. «Wir müssen die Erscheinung für die Sinne überwinden.»3 Das sinnlichkeitsfreie Denken kann zur Erlebnistatsache werden. Sie besteht darin, dass wir die ideellen Gesetzmäßigkeiten in Form von Zusammenhängen im selbst erzeugenden Denken gestalten. Wir kennen das Erscheinen des Denkens auf unserem Bewusstseinsfeld bei achtsamer Beobachtung am besten, weil wir es sind, die es zur Erscheinung bringen. Es ist aber nicht subjektiv, weil wir den Inhalt der Gedanken nicht eigenmächtig erzeugen. Es spricht sich ein ideell Wesenhaftes in uns aus. Der Zusammenhang beispielsweise von Ursache und Wirkung liegt in den Begriffen selbst, die wir nicht willkürlich verändern können, ohne die logischen Gesetze zu verletzen. Der Begriff Weiß ist auf der ganzen Welt für alle denkenden Menschen der gleiche. Im denkenden Erleben werden Gedankeninhalt und Gedankentätigkeit, Begriff und Wahrnehmung eins. Ebenso schaffe ich in der weiteren Vertiefung einen inneren Raum, indem ich von einem sinnlichkeitsfreien Erleben zu einem leibfreien Erleben der Gedanken vordringe.

Die Vorschule des Schauens

Das sinnlichkeitsfreie Denken ist die Vorschule des Schauens. Denkinhalt und Denkaktivität vereinigen sich in selbst hergestellten, selbst geschaffenen Zusammenhängen. Die Wahrnehmung dieser schöpferischen Aktivität erleben Denkende als ein mit Licht verbundenes Geisterlebnis. Das wahrgenommene Licht des Zusammenhangs ist für achtsam Denkende Schauen. Das kann auch verschlafen werden. Das Nicht-Wahrnehmen ist jedoch kein Hinweis auf den Bruch zwischen Denken und Schauen. Die Tiefenschicht findet man in der ‹Philosophie der Freiheit›. Allerdings kann Letztere nur erlebt werden, wenn im Studium das an das Gehirn gebundene Denken erlöst wird. Denken wird Wahrnehmung. Dann erwachen Denkende in einem höheren Sein. Das ist ein Weg der Einsamkeit.4

Die dabei auftretende Unfähigkeit, die sich im Müde-Werden ausspricht, muss durch die oben angedeutete Denkaktivität verwandelt werden. Nicht selten stellt sich Verzweiflung bei diesen Versuchen ein. Der Denkwille ist damit bei deren Überwindung – keimhaft veranlagt – angesprochen. Intuition wird Erlebnis-Wirklichkeit. «Denn, wenn auch einerseits das intuitiv erlebte Denken ein im Menschengeiste sich vollziehender tätiger Vorgang ist, so ist es andererseits zugleich eine geistige, ohne sinnliches Organ erfasste Wahrnehmung. Es ist eine Wahrnehmung, in der der Wahrnehmende selbst tätig ist, und es ist eine Selbstbetätigung, die zugleich wahrgenommen wird. Im intuitiv erlebten Denken ist der Mensch in eine geistige Welt auch als Wahrnehmender versetzt. Was ihm innerhalb dieser Welt als Wahrnehmung so entgegentritt wie das geistige Wesen seines eigenen Denkens, das erkennt der Mensch als geistige Wahrnehmungswelt.»5

Die Erfahrung der Vermählung des Denkinhalts mit der Denkaktivität im individuellen Erleben ist Geist-Erleben, das im schöpferischen Prozess geschaut wird. Diese Tatsache verbürgt der Individualität die Freiheit, weil letztere als ein vom Menschen selbst erzeugtes Geistesgut erworben wird.

Bild: Urte Copijn

Perle des reinen, leibfreien Denkens

Es sei im Zusammenhang mit dem oben beschriebenen Denken auf die bedeutende Stelle hingewiesen, in der Steiner in umfangreichen Ausführungen darauf hinweist, dass in der ‹Philosophie der Freiheit› der Keim der Hellsichtigkeit im leibfreien Denken veranlagt werden kann. Hühner können die Perle ebenso wenig schätzen (so Steiner) wie die Menschen, die dieses Werk in seiner Tiefenschicht nicht umfassend erarbeitet haben. «Mensch erkühne dich, deine Begriffe und Ideen als die Anfänge deines Hellsehertums anzusprechen. Das, was ich jetzt ausgesprochen habe, habe ich schon vor vielen Jahren ausgesprochen, ausgesprochen in aller Öffentlichkeit, nämlich in meinen Büchern ‹Wahrheit und Wissenschaft› und ‹Philosophie der Freiheit›, wo ich gezeigt habe, dass die menschlichen Ideen aus übersinnlichem, geistigem Erkennen kommen. Man hat es damals nicht verstanden, das ist ja auch kein Wunder, denn diejenigen, die es hätten verstehen sollen, die gehörten, nun ja, zu den Hühnern.»6 Deutlicher kann man wohl kaum aussprechen, dass eben diejenigen, die im gewöhnlichen Alltagsdenken, in Vorstellungen und in Assoziationen stecken bleiben, eben Hühner sind, die das Geistige im Denken, den Keim der Hellsichtigkeit, nicht zu erleben vermögen.

Es werden nun weitere Stufen in dieser Vortragsreihe beschrieben, die von Bedeutung sind. Hat man die oben beschriebene Einsamkeit und den Abgrund im Zweifel erfahren, so erlebt die Individualität den sich bildenden Felsen, auf dem man nun fest steht. Die Kraft der Unerschütterlichkeit und Standfestigkeit gewinnt an Boden. Die innere Sicherheit wird in einem weiteren Schritt in der Überwindung jeglicher Dogmatik vertieft, «denn er [der Geistesschüler, Anm. d. A.] soll den eigenen Weg aus den Ursprüngen seiner Seele machen».7

Weg zur Imagination und zur Inspiration

Wenn das Denken mit seinem Denkinhalt und die schaffensfreudige Aktivität an der ‹Philosophie der Freiheit› eins werden und sich vereinen, kann der Übergang zu einer neuen Seinssphäre vollzogen werden. Damit verbunden ist die Vertiefung des Wahrnehmungsanteils bzw. des Erlebnisraumes am denkenden Mitvollzug. Es steht nun nicht mehr unmittelbar der Erkenntnisgehalt im Mittelpunkt, sondern die Denkbewegung. Durch die intensiv geistige Arbeit erwacht der Denkwille mit immer deutlicherer Klarheit im Bewusstseinsfelde des oder der Denkenden, der in meditativer Form gesteigert werden kann. Was im Erleben nun immer deutlichere Konturen erhält, das kann mit einem Farberleben in entferntem Sinn verglichen werden. Steiner hat dieses Geisterlebnis mit Imagination bezeichnet. Der Geistesschüler und die Geistesschülerin werden zu Geistesforschenden.

Nun kann der Gedankeninhalt ausgelöscht werden. Das Denken wird reiner Wille. Denk-Wille wird rein geistige Wahrnehmung im Rückstau des Denkinhalts. Wie bei einer Staumauer wird das strömende Wasser zurückgehalten und hebt jene geistgetragene Kraft ins Bewusstsein, die normalerweise im Denken oder in der Meditation als fließendes und strömendes Element erlebt werden kann, welches die zusammenhangsbildende Grundkraft in ihrem eigentlichen Wesenskern auferweckt. Dieses Erleben kann nun mit dem Musikalischen verglichen werden. Das reine Intervall als Intervall ist nicht hörbar; es kann nur im inneren Erleben vollzogen werden. Den Eurythmisten und Eurythmistinnen gibt Steiner eine Charakteristik des Musikalischen, indem er darauf hinweist, dass das eigentlich Musikalische nicht hörbar sei. Natürlich bedürfen wir zweier oder mehrerer Töne in einem musikalischen Zusammenhang, die wahrgenommen werden, um ein Intervall erleben zu können. In diesem Sinne sei auf die Erkenntnisstufe der Inspiration hingewiesen. «Das auf solche Art erlangte Weben in dem Seeleninhalte kann reale Selbstanschauung genannt werden. Es lernt sich dabei das menschliche Innere kennen; […] es erlebt sich in sich selber als übersinnliche Realität.»8

Auf eine Gefahr sei dabei noch hingewiesen. Nicht der Nachklang des meditativen Erlebens sollte vertieft werden, sondern die Willenskraft, die im seelischen Weben im Bewusstseinsfelde aufgewendet und auferweckt wurde. Diese Kraft muss im weiteren Verlauf des Erlebens so vertieft werden, dass die Seelenenergie in sich selbst verdichtet wird, damit sie sich selbst gegenübergestellt werden kann. «Aus dem Ätherleib stammen nun die Kräfte, durch welche das Selbst in die Lage kommt, den subjektiven Inhalt der inspirierten Erkenntnis zur objektiven Anschauung zu machen.»9

Die Intuition

Wie bei der Stufe der Imagination zur Inspiration muss nun die vertiefte Selbstschau der Inspirationsstufe unterdrückt werden. «Er muss die Seele frei machen können von allem, was nun unter der Nachwirkung seiner an die sinnliche Außenwelt sich anlehnenden Übungen erlangt worden ist. […] Das Bewusstsein erlebe sich nunmehr als Schauplatz, auf dem ein wesenhafter übersinnlicher Inhalt nicht vorgestellt wird, sondern sich selbst vorstellt.»10 Die reale Verbindung mit dem Innersten von Geistwesen wird Wirklichkeit. Höhere Wesen offenbaren sich im Geisterleben. Die höchste Stufe einer selbstlosen Kommunikation wird Geist-Gegenwart.

Fußnoten

  1. Rudolf Steiner, Philosophie und Anthroposophie. Nachlassverwaltung, Dornach 1965, S. 9.
  2. Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. Nachlassverwaltung, Dornach 1960, S. 43 ff.
  3. Ebd. S. 42.
  4. Vgl. Rudolf Steiner, Die okkulten Grundlagen der Bhagavad Gita. 2. Vortrag, Ausgabe 1920 (alte maschinengeschriebene Ausgabe).
  5. Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit. Rudolf-Steiner-Verlag, Dornach 1996, S. 256.
  6. Vgl. Rudolf Steiner, Die okkulten Grundlagen der Bhagavad Gita, 2. Vortrag, Ausgabe 1920, S. 8 (alte Ausgabe, siehe oben).
  7. Ebd. S. 11.
  8. Rudolf Steiner, Philosophie und Anthroposophie. Nachlassverwaltung, Dornach 1965. Die psychologischen Grundlagen und die erkenntnistheoretische Stellung der Anthroposophie, S. 124.
  9. Ebd. S. 126.
  10. Ebd. S. 129 f.
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