Jeden Tag eine Tüte voll

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Fünf Schilder sind es, die übereinander die Einfahrt eines Berliner Parkplatzes säumen. Es ist eine Sinfonie an Verbot und Vorschrift. Da lohnt es sich, innezuhalten und das Schilderquintett zum Meditations­stoff zu machen.


Die Seele reist in die Vergangenheit dieses Grundstücks und seiner Besitzer. Waren es schlechte Erfahrungen, die zu dem fünffachen Nein führten, oder nur übersteigerte Vorsicht? Wie viel an Ärger stand hier Pate? Der Humor scheint jedenfalls abhandengekommen zu sein. Ich wünsche mir die Glocke, von der der anthroposophische Clown Frieder Nögge vor bald 40 Jahren erzählte. Er hatte am Abend eine Aufführung im Grundsteinsaal des Goetheanum und inspizierte am Nachmittag den Saal. «Hier wird niemand lachen», dachte er sich, als er die, wie er sagte, gewichtige Atmosphäre des Saals erlebte. Deshalb sei er dann durch alle Reihen gegangen, oft auf allen Vieren gekrabbelt und habe mit dem Klang der Glocke humorvolle Elementarwesen herbeigerufen, für den Abend eingeladen. Es habe Erfolg gehabt, berichtete Nögge. Mit solch einer Glocke würde ich diese Stele der Unfreundlichkeit gerne weihen, denke ich.

Ganz für mich allein

Dann die Antwort des Schicksals, eine Glocke anderer Art: Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hat ein älterer Mann eine Abfallzange in der Hand. Geschickt fährt er mit der Zange in einen Laubhaufen und holt eine Zigarettenschachtel, eine Getränkedose und kleineren Abfall hervor. Alles, was er so zu fassen kriegt, wandert mit einer eleganten Bewegung in eine Plastiktüte in einem Korb, den er in der linken Hand hält. Ein nächster Meditationsstoff. Selbst eine Zigarettenkippe und ein Kronkorken sind ihm nicht zu klein. Die gefüllte Plastiktüte verrät, dass er wohl schon eine Stunde mit seiner Abfall-Lese unterwegs ist. Wie die Schilderstele hat auch diese Geschichte ihre Vergangenheit, aber hier ist der Zeuge da. Also frage ich: «Machen Sie das für sich?» Ein freundliches Gesicht blickt vom Boden auf und nickt: «Das mach ich für mich ganz allene!» Ich schaue ihm weiter schweigend in die Augen, als Einladung, noch mehr zu erfahren. «Wenn ich morgen hier vorbeikomme und sehe, dass es sauber ist, nix mehr rumliegt, dann freue ich mich!» Wie lange er das schon so mache, frage ich. Schon eine ganze Reihe an Jahren, jeden Tag eine Tüte voll, antwortet er. Mit einer Handgebärde wiegelt er ab.

Es ist ein interessanter Kontrapunkt zur Schilderstele gegenüber. Dort das fünffache Verbot, das allen, die vorbeifahren oder -gehen, ein Nein entgegenschleudert – hier ein tausendfaches Selbstgebot, das zu dem Ort, zu all der Achtlosigkeit verstreuten Unrats und zu all denen, die hier etwas weggeworfen haben, ein stilles Ja vollzieht. Dort die Drohung, hier die Einladung, dort der Befehl, hier die Sorge. So lassen sich viele Gegensätze in den beiden Situationen finden. Der Sammler sammelt um seiner selbst willen und damit um aller willen. Könnte es sein, dass die klassische Wirtschaftstheorie der ‹unsichtbaren Hand› von Adam Smith (1723–1790) hier zutrifft? Smith schreibt in seinem Buch ‹Der Wohlstand der Nationen›: «Indem jeder Einzelne sein eigenes Interesse verfolgt, fördert er oft das Interesse der Gesellschaft wirksamer, als wenn er es direkt zu fördern beabsichtigt.» Wie destruktiv diese Überzeugung für unser Zusammenleben und die Natur ist, zeigt die Schere zwischen arm und reich, das dokumentieren Kapitalismus und Umweltzerstörung. Wenn Eigeninteresse nicht Habenwollen, sondern Streben und Zufriedenheit bedeutet, dann sieht es anders aus, dann fördert das Glück des Einzelnen das Glück aller.

In der Stille reift

Dabei scheint die Verschwiegenheit wichtig zu sein. Die Schilder trennen sichtbar für alle, ein Schild will und soll gesehen werden; der Müllsammler verbindet ganz im Verborgenen. Ja, es ist die Verborgenheit, die dem Guten seine Würde verleiht. Das habe ich selbst einmal an einer kleinen Küchenszene im Haushalt gespürt – leiblich gespürt. Eine alltägliche Geschichte: Die Spülmaschine ist noch voll von gespültem Geschirr, also räume ich sie schnell aus, damit die anderen Familienmitglieder ihr Geschirr versorgen können. Später höre ich: «Ach, wie gut, die Kinder haben die Maschine ausgeräumt!» Ich kann die Korrektur nicht für mich behalten und sage, wer hier Gutes getan hat. Dann die Quittung auf dem Fuß. Eine Empfindung erfasst den ganzen Leib: Der Körper wird mit einem Schlag schwerer, eine davor unbemerkte Leichtigkeit löst sich. Es ist, als ob unsichtbare Flügel ermatten. Es erinnert an die Beobachtung, dass die Tat, die man ohne Zeugen tut, die eigentlich freie Tat ist. Rudolf Steiner nimmt dafür die Meditation als Beispiel. Der Entschluss, sich zu versenken, ist frei, wenn niemand davon weiß, denn dann ist es nur um des eigenen Selbst willen. Zurück zum Müllsammler: Vermutlich trägt er mächtige Flügel am Rücken, lange bevor er sich am nächsten Tag über die müllfreie Stelle freut.


Foto Wolfgang Held

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