Individuen sind verwoben mit den Geschehnissen des Außen. Wie wir damit umgehen wollen, liegt ganz an uns. Dazu braucht es eine Innenwahrnehmung. Wir haben Einfluss, sogar auf die Ideen selbst, und damit auch auf die Geschichte.
Ich werde oft mit der Behauptung konfrontiert, Steiner hätte nicht eine originäre geistige Erfahrung haben können. Er hätte seine Weisheit aus einem breiten Fundus von überlieferten Weisheitslehren geschöpft. Traditionelle Historiker und Historikerinnen gehen zumeist davon aus, dass es immer Vorbilder geben muss, an denen sich Gedanken entzünden. So wird bei Steiner oft auf die Ideen der Theosophie, vornehmlich auf Helena Blavatsky, hingewiesen, ohne die Frage zu klären, woher sie diese hatte.
Wie kommt aber dann Goethe dazu, die Faust-Vorbilder zu verändern? Warum erlöst er seinen Faust? Der mittelalterliche Faust wird doch am Schluss vom Teufel geholt! Hat er diese Idee aus dem Renaissance-Okkultismus? Man hofft, in seiner Bibliothek die Vorbilder zu finden. Aber wie erklärt man seine Farbenlehre? Seine Metamorphose der Pflanzen? Dafür gibt es keine Vorbilder. Rudolf Steiner hat Goethes Vorgehensweise aufgegriffen und sie Schritt für Schritt ausgebaut. Und was ist das Originelle daran? Steiner arbeitet methodisch aus, was Goethe als selbstverständlich voraussetzte, dass der individuelle Mensch mit den einzelnen Phänomenen, wie sie uns die Natur bietet, verwoben ist. Anders ausgedrückt: Ein Mensch verbindet sich mit einem Naturgeschehen als eine innerlich beteiligte Beobachterin oder ein Beobachter, und durch wiederholtes Sich-Einleben schult er oder sie diese Seelentätigkeit zum Instrument der Erkenntnis. Kritisierende sagen: «Das ist gar nicht möglich! Der wissenschaftliche Erkenntnisprozess würde ja gänzlich dem Subjektiven verfallen!» In einer Hinsicht haben sie durchaus recht: Wahrheit findet man nicht im Subjektiven. Aber wer sagt, dass sich das Subjekt nicht verobjektivieren kann? In dieser Frage liegt die Crux.
Seele und Umkreis
Die Alltagserfahrung lehrt: Wenn ich einem anderen Menschen zuhöre, so liegt es doch an mir, ob ich beim Zuhören die Aussage innerlich kommentiere und beurteile oder ob ich einfach ruhig zuhöre und meine Kommentare zurückhalte, damit ich wirklich verstehen kann, was der andere zum Ausdruck bringen will. Es liegt in meiner Hand, ob ich mich an die Kandare nehme oder nicht. Und wie ist es mit dem Auge? Warum muss ich identifizieren und mit dem Gelernten in meinem Gedächtnis zusammenbringen, was ich sehe? Oder ist es möglich, mich zu einer reinen Wahrnehmung zu erziehen? Auf der einen Seite lese ich und vernehme, speichere ab und hole es wieder aus dem Gedächtnis herauf, wenn ich es brauche. (Das kann der Computer besser, denn er hat eine Suchmaschine, die das Gespeicherte wieder zutage fördert.) Auf der anderen Seite muss ich mich mit meiner Gedankenbildung auseinandersetzen. Kann ich eine Sinneswahrnehmung unbefangen und durch Assoziationen ungetrübt auf mich wirken lassen? Dafür brauche ich eine Innenwahrnehmung, die sich auf diese Wirkung zu konzentrieren vermag. Erst wenn ich diese Wirkung auf meine Seele anschaue, kann ich auch meine Gedankenbildung von dieser Wirkungswahrnehmung führen lassen. Im weiteren Verlauf entdecke ich, wie durch diesen Atmungsprozess zwischen meiner Seele und meinem Umkreis etwas durch die empfindende Sinneswahrnehmung hindurch zu ‹sprechen› beginnt. In dieser Tätigkeit kann jeder Mensch nur originell sein. Dafür muss ich innerlich aktiv werden, mich selber kennenlernend, mein Seelenpotenzial als entstehendes Erkenntnisinstrument entdecken, kultivieren und an der Grenze zwischen dem mir Fremden und meinem eigenen Innensein einsetzen. Das hat Steiner in einem hohen Maße gekonnt.
Bücher und Vorbilder können mir wichtige Hinweise geben, ich kann von den beschriebenen Erfahrungen anderer viel lernen, aber es ist wie mit den Reisebegleitern, sie liefern mir Informationen, die hilfreich sein können, wenn ich vor Ort mit einer bestimmten Situation konfrontiert werde. Sie sind interessant, aber richtig wertvoll werden sie, wenn ich an dem beschriebenen Ort persönlich angekommen bin.
Bild Haupteingangstür zum Glashaus Foto: Gottfried Fjeldså
Liebes Goetheanum!
Herzlichen Dank für den tollen Artikel. Ich habe ein paar Tage darüber nachgedacht.
Ich möchte nur ein paar wenige Stichpunkte liefern, die das Gedachte und Geschriebene erweitern könnten.
1. Statt mit dem Renaissance-Okkultismus kann man sich ja auch mit dem Renaissance-Humanismus beschäftigen. Die Leute früher haben das jedenfalls getan, auch Goethe.
2. Der Faust ist nicht mittelalterlich, denn:
2a. Der Faust-Stoff lässt sich bis zu Apuleius und damit sogar indirekt bis zu Aristoteles zurückverfolgen. In den unfreien Hochschulen kann man das hier gratis nachlesen, Vorwort genügt (von Seite 11 bis Seite 13).
https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110670455/html
2b. Da Goethes Faust das Johannesevangelium auf Griechisch studiert, ereignet sich das nicht im Mittelalter, sondern zur Zeit des Renaissance-Humanismus, denn im Mittelalter konnte annähernd niemand in Frankreich oder Deutschland Griechisch. Erst im Renaissance-Humanismus treten Gelehrte auf, zunächst in Italien, die Griechisch lernen und lesen. Das gilt auch für die christlichen Grundlagentexte, wie die Evangelien, die hat man im Mittelalter ausschliesslich auf Latein gelesen.
Die Leute kamen dann aber schnell auf die Idee: Wenn ich jetzt schon Griechisch kann, dann kann ich ja auch etwas anderes lesen als die Evangelien, gibt es sonst noch etwas interessantes auf Griechisch? Homer vielleicht? Oder Pindar? Oder Sophokles?
https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783050064840/html
Jedenfalls herzlichen Dank für den schönen Text, ich habe mich das ganze Wochenende damit beschäftigt.
LG Monika