Die technischen Prozesse und die Hardware von KI zu verstehen, hilft, sie frei als Werkzeug benutzen zu können. Oliver Pauletto, verantwortlicher Leiter der IT-Abteilung am Goetheanum, gibt einen Blick hinter diese Kulissen.
Als Informatiker habe ich in den vergangenen 25 Jahren immer wieder beobachtet, wie sich die innere Haltung zu Computersystemen wandelt, sobald man ihre Funktionsweise im Detail und ‹hinter den Kulissen› versteht. Wer die Mechanik in einem Computer nachvollziehen kann, gewinnt nicht nur technisches Know-how, sondern auch einen klareren, differenzierteren und bewussteren Zugang zur Sache. Statt ein fremdes ‹Ding› zu fürchten, wird der Computer zum Instrument, mit dem wir frei und kreativ umgehen können. Diese für mich so wichtige Erfahrung begleitet mich durch meine berufliche Tätigkeit und war ein Grund dafür, Open-Source-Systeme einzusetzen und zu studieren. Für mich ist das ein zutiefst anthroposophischer Ansatz: Technik nicht als undurchdringliches Mysterium zu akzeptieren, sondern als etwas, das wir durchschauen und gestalten können. Wer die Funktionsweise kennt, begegnet Technik anders: nicht als Blackbox, sondern als etwas, zu dem man in Beziehung tritt. Das Verständnis gibt Sicherheit, Gelassenheit – und die Freiheit, selbst aktiv zu gestalten. Sobald das ‹Wie› klar wird, verschwindet das nebulöse Gefühl der Abhängigkeit und verwandelt sich in Klarheit und Gestaltungskraft. Diese Haltung prägt auch meine Arbeit am Goetheanum: Ich setze bewusst auf Open-Source-Software. Denn nur, wenn ich den Quellcode und die inneren Abläufe verstehen kann, entsteht eine gesunde Distanz zum Werkzeug – und gleichzeitig eine engere Verbindung dazu. Offene Systeme sind für mich daher nicht nur eine technische Wahl, sondern Ausdruck einer Haltung.
Vom Gefühl der Abhängigkeit zu Neugier und Gestaltungswillen
Mit dem Aufkommen der künstlichen Intelligenz (KI) erleben wir nun, wie sich ein weiteres, mächtiges digitales System in unseren Alltag schiebt. Ein neues, geheimnisvolles ‹Wesen› betritt die Bühne, scheint alles zu können und lässt viele ratlos oder sogar ohnmächtig zurück. Die Technologie wirkt rätselhaft, beflügelt Mythen und wird oft so behandelt, als hätte sie eine eigene Persönlichkeit. Aus einem Werkzeug wird in der Wahrnehmung eine ‹Person›, die uns versteht – und zunehmend beherrscht. In den letzten Monaten habe ich mich deshalb intensiv mit KI auseinandergesetzt – technisch, im Detail, unter der Haube. Und wieder konnte ich beobachten, wie befreiend es ist, wenn man die Mechanismen erkennt. Aus nebulösem Eindruck wird ein klares Bild. Aus dem Gefühl der Abhängigkeit wird Neugier – und aus der Neugier Gestaltungsspielraum. Ich erinnere mich, wie ich vor rund zehn Jahren erstmals von künstlichen neuronalen Netzen hörte. Mich beeindruckte zutiefst, wie sich ein System allein durch mathematisches Lernen verbessern kann – und dass der zentrale Programmcode oft nur aus wenigen Zeilen besteht. Das Herzstück jeder KI ist erstaunlich schlicht: Informationen werden in Millionen kleinster Einheiten zerlegt, mathematisch modelliert und als Vektoren miteinander in Beziehung gesetzt. Gleichzeitig ist der Gedanke befremdlich, dass diese kühle Mathematik angeblich aus der Arbeitsweise unseres Gehirns abgeleitet ist. Ist unser Gehirn tatsächlich eine Maschine? Besitzen wir in uns einen solchen Mechanismus?
Ich will zwei Begriffe genauer betrachten, deren Bedeutung mir erst durch die KI-Debatte klar geworden ist: Der deutsche Begriff ‹Intelligenz› deckt sich nicht zwingend mit dem englischen ‹intelligence›. Letzteres kann im Kern funktional sein – es bezeichnet Informationsverarbeitung, Analyse und Problemlösung (wie etwa in ‹military intelligence›). Im Deutschen dagegen schwingt oft Denken, Verstehen und sogar Bewusstsein mit. Wenn wir von ‹künstlicher Intelligenz› sprechen, verbinden viele damit intuitiv ein System, das fühlt, urteilt oder ein Ich-Bewusstsein besitzt. In Wahrheit knüpft die Idee seit dem Dartmouth Proposal von 1955/56 an etwas deutlich Bescheideneres an: die Automatisierung von Problemlösung – also Systeme, die mathematisch modellieren, analysieren und auf Basis großer Datenmengen Entscheidungen ableiten. KI erkennt Korrelationen in Daten, jedoch nicht deren Bedeutung. Sie besitzt kein Leben, kein Gewissen, kein Wollen. Alles, was sie ‹weiß›, sind statistische Wahrscheinlichkeiten innerhalb festgelegter Zielvorgaben.

KI ist und bleibt ein Werkzeug
Unser Gehirn verarbeitet zwar Sinneseindrücke in geordnete Muster – wir Menschen machen aber mehr: Wir können diese Muster in eine lebendige Bedeutung verwandeln. Wir erleben, deuten, fühlen und wollen. Wir verbinden Erfahrungen mit Absichten, Sinn und Empathie. KI bleibt bei einer kalten, aber effizienten Berechnung. Sie mag präzise sein, aber sie versteht nicht. Das Verständnis der Funktionsweise einer Technologie kann uns aus Abhängigkeit befreien. KI – so beeindruckend sie auch wirkt – ist und bleibt ein Werkzeug der Mustererkennung und Wahrscheinlichkeitsberechnung, ohne eigenes Bewusstsein. Der Mensch ist derjenige, der Sinn nicht nur erkennen, sondern auch fühlend und wollend erschaffen kann. Genau darin liegt unsere Verantwortung im Umgang mit dieser Technologie. Sinn ist mehr als Statistik oder Korrelation – er umfasst alles, was jenseits von Datenpunkten liegt. Sobald wir Bedeutung auf bloße Zahlenreihen reduzieren, verlieren wir etwas zutiefst Menschliches. Darum müssen wir uns bei jeder Anwendung von KI fragen: Warum nutzen wir sie? Welchen Zweck verfolgen wir? Und welche ethischen Konsequenzen hat dieser Einsatz? Wenn wir den Menschen, seine schöpferische Kraft und seine Fähigkeit zur Sinnstiftung ins Zentrum stellen, kann KI ein dienliches Instrument werden. Wenn nicht, droht sie, uns innerlich zu entfremden.
Am Ende kehre ich damit zu meinem Ausgangspunkt zurück: Offene, nachvollziehbare Systeme wie Open-Source-Software schaffen den notwendigen Abstand zu unseren Werkzeugen. Die Reise vom Programmieren hin zur bewussten Selbstbeobachtung ist nicht nur eine technologische, sondern eine philosophische Entwicklung: Erst wenn wir die schwarzen Kästen öffnen und die darin verborgene Logik verstehen, können wir die Welt der Technik – und uns selbst – klarer erkennen.
Titelbild Data Center CERN in Bern, Schweiz (Foto: Florian Hirzinger)








