Ich bin nur noch hier und jetzt

Auf meinem Osterbesuch in Potsdam traf ich I. aus der Ukraine, eine Verkaufsmanagerin und junge Mutter aus Odessa. Ihr Mann ist Matrose und war in der Türkei, als der Krieg ausbrach. Er konnte von dort nach Deutschland fliegen. I. und ihre kleine Tochter mussten über den Landweg fliehen, zunächst nach Moldawien.


I. sagt, sie sei schockiert gewesen von der Armut dort und trotzdem hätten sich die Menschen in Chișinău sehr herzlich und fürsorglich gekümmert. In der Ukraine konnte man gut leben, sagt sie, die Ukraine ist ein reiches Land. Sie selbst hat im Getreidehandel gearbeitet und kennt die Ressourcen ihrer Heimat. Aber sie spricht auch von der Kultur, von der zahlreichen Kunst, die es in Städten wie Odessa gibt. Auf ihrer Flucht vor dem Krieg ist sie mit Zügen, Bussen und Autos unterwegs gewesen. Von Moldawien durch Rumänien, dann Ungarn, Österreich bis nach Potsdam. Sie hat Glück, weil fast alle ihr nahen Menschen auch fliehen konnten und mittlerweile in Deutschland sind. Nach Potsdam ging sie, weil ihre Mutter da eine gute Freundin hat, die schon lange ausgewandert ist. Ihre Tage verbringt sie am Telefon, im Austausch mit Freundinnen, ihrer Schwester und ihrem Mann, der nach Polen weitergegangen ist, in der Hoffnung, dort wieder Arbeit zu finden. Sie geht spazieren mit ihrer Tochter, die Zahnweh hat und behandelt werden muss, sie erledigt ihre Termine auf Sozialämtern und im Kindergarten. Sie sucht eine Beschäftigung. Ihr und ihrer Tochter kam viel Hilfe entgegen. I. meint, sie sei froh, denn wie gefährlich ihre Flucht gewesen sei, habe sie erst später verstanden. Dass Frauen und Kinder auf der Flucht von Gewalt, Ausbeutung, Menschenhandel bedroht sind, habe sie sich vorher nicht einmal vorstellen können. Als ich sie frage, was nun ihre Perspektive sei, sagt sie, dass sie ohne Perspektive lebe, dass sie zum ersten Mal keinerlei Plan machen würde. Viele ihrer Bekannten meinten, dass der Krieg im Juni vielleicht enden werde, aber wie und was komme dann? «Ich fühle mich, als sei ich plötzlich aufgewacht. Ich bin nur noch hier und jetzt.» Und dann sprechen wir weiter über Potsdam und seine Schlösser und Gärten und dass I., solange sie hier ist, nach Dresden möchte, weil die Semperoper und das Opernhaus in Odessa wie Geschwister aussehen.


(Dieser Text führt nirgendwohin. Er ist eine kleine Widmung an eine Frau und ein Kind, die leben, und an deren kleine Geschichte in der großen Weltgeschichte.)

Titelbild Johnny Cohen von Unsplash

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