Hoffnung, wer bist du?

Du Stille, Zarte, du, die keinen Ort hat als in uns, irgendwo in den Hinterkammern unserer Gesichter. Du Unsichtbare und allen Sinnen Ferne. Du, die die Kraft hat, in einem Einzelnen wirklicher zu sein als die sogenannten allgemeingültigen Tatsachen. Du, die die wirklich tiefsten Wünsche in sich beherbergt, denen die Umstände und die Zeit gerade nirgendwo anders Aufenthalt gewähren. Du machst größer und schöner, und die, die dich nicht haben, sind die Grauen und etwas zu tief im Materiewiderstand Klebenden, die, die meinen, die Erde sei wirklicher als der Himmel. Hoffnung, du Unabhängige. Du Fantasie- und Freudenahe. Du hast die Kraft, leuchten zu lassen, ja, nicht du leuchtest, du erregst Leuchten in dem, der dich in sich hat. Und du gibst die Kraft, für möglich zu halten, was niemand sonst als möglich erlebt, und so kann das Ungeformte, Nichtseiende getragen werden. Wer kann dich wegnehmen? Schlechte Geschehnisse, die immer in dieselbe Richtung zielen, oder die Entscheidung, dich als Illusionstendenz zu beurteilen. Aber nichts nimmt dich für immer; immer bist du bereit, doch bei denen, die bisher ohne dich sein wollten, aufzutauchen. Du, die das Leben und den Frieden liebt. Du Menschliche. Du, Hoffnung, du hast kein leitendes Geländer wie der Glaube. Du kannst nur aus der eigenen Kraft eines Menschen leuchten, ohne Form, ohne Bild, ganz ins Offene hinein. Als wärst du eine Frage, zu deren heller Antwort man sich auf den Weg macht, ohne irgendetwas daran greifen zu können.

Spricht in dir nicht tief der eigene Wille, der weiß, dass er jetzt nichts für sich tun kann, als das noch Unreale in Zukunft für möglich zu halten? Gibt der Wille sich in dir nicht einen Ort, der ihn vor Verzweiflung, Angst und Unrast schützt, ohne sich selbst darüber hinwegzutäuschen, dass das Gewollte nicht anwesend ist?

Was du noch hoffen kannst, das wird noch stets geboren.1

Aber ist die Hoffnung nicht nur Vorstellung? Nein, denn sie ist nicht von Bildern befüllt. Oder ist sie nicht nur Privatwunsch? Nein, denn genauso, wie sie mit mir selbst verbunden ist, spannt sie mich in ihren großen Raum, der mich übersteigt. Aber haben nicht die Hoffnungslosen der Erfahrung nach recht? Ja, aber aus der Erfahrung kommt keine Zukunft.

Hoffnung, du Leere, Edle, du zuletzt Sterbende, ich lebe mit dir.


Illustration Gilda Bartel

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Footnotes

  1. Paul Fleming, Gedicht ‹An sich›.

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