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Hören für das Ätherherz

In der Krise entstehen innere Räume. In dieser Zeit voller Unsicherheit kann eine andere Art von Sicherheit im Inneren erlebt werden, im Hören, im Herzen. – Der Musiker Matthias Bölts erzählt von Kraft der Musik sowie der Entwicklung eines neuen Hörsinns in der Coronakrise.


Italien, 16. März 2020: Mit organisierten Flashmobs, aber auch spontan machen viele Italiener ihre Balkons zu musikalischen Miniaturbühnen. Beim ‹flashmob sonoro› (klingender Flashmob) sind dabei unzählige Flötisten, Pianisten, trommelnde Kinder, Gitarrenspieler und tanzende Menschen versammelt, um gemeinsam Lieder gegen Angst und Einsamkeit in der Isolation zu singen. Es entsteht ein Zeichen der Solidarität und Lebensfreude in Zeiten der Coronakrise.

Diese Bilder gehen um die Welt. Sie erzählen von der Möglichkeit der Musik, unmittelbarer Ausdruck zu sein von elementarer Freude und Schmerz, von ihrem Potenzial, zu trösten und im Innersten zu berühren. Besonders ‹anschaulich› wurde die verbindende, die Vereinzelung überwindende Kraft der Musik im ‹Konzert der Balkone›. Musik trägt in sich die Kraft, Angst und Furcht zu überwinden, die Seele zu weiten und zu öffnen.

Herzräume

Der deutsche Schriftsteller Johann Gottfried Seume hat in seinem Gedicht ‹Die Gesänge› 1804 dafür folgende Worte gefunden: «Wo man singet, lass dich ruhig nieder, Ohne Furcht, was man im Lande glaubt; Wo man singet, wird kein Mensch beraubt; Bösewichter haben keine Lieder.»

Der individuelle Freiheitsraum und der zwischenmenschliche Begegnungsraum sind gegenwärtig am stärksten angegriffen und angstbesetzt – mit Angst vor Ansteckung, vor Krankheit und Tod einerseits und andererseits vom magischen Sog zu einem scheinbar objektiven digitalen Informationsgeschehen. Der soziale Herzensraum scheint gegenwärtig gleichsam zerrissen zwischen angstgesteuerter individueller Isolation und Abkapselung und einer durch die Fesselung an Massenmedien gelenkten globalen Gleichschaltung des menschlichen Bewusstseins.

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Licht verstärkt Schatten, Dunkles lässt das Licht stärker leuchten. Man kann es als innere Aufforderung erleben, sich dem Sog der die Seele verdunkelnden Schatten zu entziehen und das Bewusstsein der eigentlichen Lichtquelle zuzuwenden.

Was aber möchte eigentlich in diesem Herzensraum ‹klingen›? Was möchte dort leben, wo die Begegnung von Mensch zu Mensch, von Herz zu Herz geschieht? Die Besinnung auf die alte manichäische Weisheit: ‹Wo viel Licht ist, ist starker Schatten›, kann innere Ruhe geben und Orientierung schaffen.

Johann Wolfgang Goethe weist mit diesen Worten auf eine tiefe Erfahrungsmöglichkeit des Lebens: Licht verstärkt Schatten, Dunkles lässt das Licht stärker leuchten. Man kann es als innere Aufforderung erleben, sich dem Sog der die Seele verdunkelnden Schatten zu entziehen und das Bewusstsein der eigentlichen Lichtquelle zuzuwenden.

Pausenräume

Der Musiker Johann Gottfried Walther schreibt 1732 in seinem ‹Musikalischen Lexikon›: «Corona, oder Coronata, also wird von den Italienern dieses Zeichen (U) genennet, welches, wenn es über gewissen Noten in allen Stimmen zugleich vorkommt, ein allgemeines Stillschweigen, oder eine Pausam generalem bedeutet.» Ein überraschender und bemerkenswerter Zusammenhang.

‹Corona› erscheint im Sinne dieser Worte als die ‹Moll-Innenseite› des gesellschaftlichen Lockdowns, als Aufforderung zum bewussten Innehalten und aktiven Hören. Es geht um die Erfahrung, um das Gewahrwerden von Stille als lebendiger Substanz, nicht als Leere oder Abwesenheit von Geräuschen. Yehudi Menuhin beschreibt diese ‹Substanz›: «Diese echte Stille ist Klarheit, aber nie Farblosigkeit, ist Rhythmus, ist Fundament allen Denkens, darauf wächst alles Schöpferische von Wert. Alles, was lebt und dauert, entsteht aus dem Schweigen. Wer diese Stille in sich trägt, kann den lauten Anforderungen von außen gelassen begegnen.»

Stilleräume

Ein solcher Umgang mit Stille kann sich steigern in die Erfahrung dessen, was Rudolf Steiner im meditativen Prozess als ‹leeres Bewusstsein› beschreibt. Hier geht es um die Ausbildung eines neuen Hörorgans der Seele, es geht um Ohren für Künftiges, für Wesentliches und Lebendiges. Grundlage hierfür ist das Üben von gesteigerter Wachpräsenz bei gleichzeitigem Sich-ganz-Zurücknehmen in selbstloser Hingabe, ohne abzuschweifen, ohne einzuschlafen. Auch das Loslassen der Pläne und Lösungen von gestern und der übende Umgang mit dem Unvorhersehbaren unterstützen die Entwicklung dieses Inspirationsorgans. Schon die letzten Wochen haben gezeigt, wie die Sensibilität für das, was in der Lebenssphäre der Erde und in dem Raum des Zwischenmenschlichen anwesend ist oder anwesend sein möchte, enorm gestiegen ist. «Brannte nicht unser Herz in uns bereits, als er auf dem Weg zu uns sprach und uns den Sinn der Schriften erschloss?» (Lukas 24,32)


Bild: Bienenwachs schmelzend, mit Kupferpigmenten vermischt. Foto: Gilda Bartel

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