Großer Dank und stiller Auftrag

Eine Gedenktagung zum 100. Todestag Rudolf Steiners fand in Dornach am Wochenende um den 30. März statt. Reichhaltig und tiefgründig dachten, fühlten und dankten Veranstaltende und Teilnehmende für alles, was ihnen aus der Anthroposophie zugutegekommen ist.


Ein besonderer Moment. Ein gewaltiger Herzschlag in der Geistesentwicklung der Menschheit durch das 64 Jahre dauernde irdische Leben. Er vollzog sich vor genau 100 Jahren. Das seither daraus flutende Herzblut zirkuliert weiter bis heute, bis in winzige Ecken des ganzen Organismus.

«Aus des Kosmos Geist entzünden …» lautete das Motto der Ausstellung zur Gedenktagung. Nicht zufällig taucht der energetische und wache Konsonant ‹s› in den ersten fünf Silben auf. Durch die Eurythmie weist er darauf hin, dass es um eine Tat geht, nämlich das Entzünden/Begeistern. Wer entzündet und begeistert wen? Rudolf Steiner als Geistes- und Lebensinitiator entzündet viele Menschen, unmittelbar oder/und mittelbar, die vorher noch Suchende und im Geistigen schlummernd waren. Ein Teil davon, nämlich 230 Teilnehmende gedachten am Goetheanum gemeinsam des 100. Todestages Steiners. Nicht nur um Dank zu sagen, sondern auch um gemeinsam den ursprünglichen Herzschlag zu erleben, auf ihre Berührung und Beziehung zur Anthroposophie zurückzuschauen und ihren eigenen Weg zum Geistigen durch die Anthroposophie zu erkennen und zu erneuern.

Die Tagung spannte ihren Bogen über drei Tage von der Vernissage der Ausstellung ‹Rudolf Steiner: Leben und Werk (1861–1925)› am 28. März 2025 über die ‹Geburtshuldigung› für ihn, zum Wirken der Anthroposophie in West und Ost und letztlich bis zum 100. Todestag. Vor und nach der Tagung gab es am Campus vielfältige Veranstaltungen: Konzerte, Vorträge, Führungen, die einen unermüdlichen Strom von Besuchenden anzogen.

Kunst und Anthroposophie

«Ohne Kunst wäre Anthroposophie undenkbar!», sagte Martina Maria Sam bei der Podiumsdiskussion vor der Vernissage, umringt von der Moderatorin Christiane Haid und drei weiteren Gästen. Und weiter: «Steiner schafft nicht nur das Kunstwerk, sondern auch das Werkzeug – die Technik, wie Schleiftechnik für Glasfenster, Eurythmie für die Sprache.» Man war sich einig: Es ist ein Rätsel, warum es in keiner anderen Geistesströmung so viel Kunst gibt wie in der Anthroposophie. Kunst fungiert wie die Luft, die nicht nur als Atmosphäre den Lebensorganismus umgibt, sondern in jede Blutzelle eindringt, wo sich der Wille erfüllt – das Feurige benötigt das Luftige, um sich weiter zu verwirklichen. «Wieso steht in Steiners Tafelzeichnung die Intuition beim Kapital? Welch eine neue von der Kunst durchdrungene Denkweise!», fragte Walter Kugler sich und uns.

Ueli Hurter spannte an der Ausstellungseröffnung zwei Pole in Steiners Leben zwischen materieller Bescheidenheit in der Kindheit, im Ersten Goetheanum sowie auf dem Krankenlager und geistigem Reichtum in fast allen Wissens- und Lebensbereichen. Das Goetheanum sei eine Weltschule für den Human-Ismus (Anthropo-Sophie)! Dies zitierte später der Solothurner Nationalrat Felix Wettstein in seinem Grußwort. Früher, als auszubildender Pädagoge, hatte er schon Zuneigung zum anthroposophischen Menschenbild. Die baldige Verdoppelung der Militärausgaben sowie die finanzielle Kürzung in Forschung und Bildung in der Schweiz mache ihm Sorgen – doch das Goetheanum als eine lebendige private Kultureinrichtung sei ein Vorbild und fähig, das Zukünftige zu ermöglichen. Der Kurator der Ausstellung, Pieter van der Ree, teilte sein neues Bild von Steiners Leben mit: ‹Scheitern und Versuchen›.

Das geistige Kind

Am Vormittag des 29. März 2025 fügten sich die Vorträge, vor allem der Leitungspersönlichkeiten aus sechs Sektionen, zu einem ‹Drama› für den jungen Steiner – ‹Die Erde war ein Stern›. Von der astronomischen Konstellation zu Steiners Geburtszeit erzählte Oliver Conradt. Den Prozess für das Hinabsteigen aus den Sternen im Spannungsfeld zwischen Natur und moderner Technik, zwischen alltäglicher und übersinnlicher Erfahrung, schilderte Peter Selg. Martina Maria Sam tauchte ein in die innerste Welt des jungen Steiner und schilderte sein Schamgefühl bei Ungeschicklichkeiten oder seine Geistesbefriedigung in der Geometrie. Constanza Kaliks beschrieb poetisch den Erziehungsprozess als zweite Schöpfung, wodurch der Stern in der Erde seine Heimat sinnvoll findet. Anschließend lud Philipp Reubke in eine reine Kinderwelt voller Fantasie, Toben und Schreien ein. Daran erkannte Jan Göschel mit seinen reichen Handgesten diesen neuen Raum in der Inkarnation als Prozess, als ‹Durchkarnation›, wo Leibliches und Geistiges, Vergangenes und Zukünftiges, Schmerz und Freude resonieren und sich harmonisieren. Zuletzt schlugen Christiane Haid und Matthias Rang die Regenbogenbrücke – ‹Bifröst› in der nordischen Mythologie – zwischen Irdischem und Himmlischem. Die Erde wird wieder ein Stern.

Ein Bronzeabguss vom Reisekoffer Rudolf Steiners steht nun am Bahnhof Dornach-Arlesheim. Mit dem Original war Steiner immer unterwegs, um seine Geisteswissenschaft zu verbreiten. Im Südosten des Goetheanum-Campus steht neu ein wachsfarbiger sechseckiger Bienenturm. Er ist aus einer Zusammenarbeit von verschiedenen Abteilungen und Sektionen und durch Dutzende Helfende entstanden, wie bei den Bienen, die den Nektar von tausend Blüten aufsaugen, die ebenfalls tausend Sonnenstrahlen aufgesaugt haben. Hier können die Besuchenden hören, tasten, schmecken und riechen.

Mit dem Tönen eines Alphorns und dem Rühren des Wassers für biodynamische Präparate, wurde auch der Präparatepavillon eröffnet. Seine expressionistische, sich nach außen streckende Traufkante zeigt den kosmischen Zug anthroposophischen Gärtnerns. Ihre sechs sich umdrehenden Stützenhölzer drücken die potenzielle Kraft der im kleinen und dunklen Lagerraum aufbewahrten Präparate aus. Ist das Goetheanum bereit, ein geistiger ‹Präparatepavillon› zu werden?

Linda Williams, eine afroamerikanische Waldorfpädagogin, las einen Brief an ‹Brother Steiner› und erzählte die Generationengeschichte von ihren versklavten Vorfahren bis heute. Sie ließ spüren, dass sie in der Anthroposophie die Bejahung ihrer eigenen kulturellen Wurzeln und die Kraft zum Aufbau der Gesellschaft gefunden hat. Hornfay Cherng, Professor für Waldorfpädagogik aus Taiwan, sang zwei Lieder, ein westliches und ein taiwanisches. «In Musik und Melodie sind wir uns trotz aller Kulturunterschiede ähnlich, denn wir sind Menschen! Das gilt auch in der Anthroposophie.» Er zitierte C. G. Jung, um zu zeigen, dass wir erleben, statt uns nur Wissen anzueignen, was den Kern der Anthroposophie anspricht: künstlerisches Erleben und dann denkerisches Erkennen. Auf der Tafel verlieh er dem aus schwerem Beton gebauten Zweiten Goetheanum viele Flügel, etwa wie beim Präparatepavillon, in Anlehnung an altchinesische Architektur. Was für ein Sinnbild einer Sehnsucht: Das Goetheanum/der anthroposophische Geist befreit sich und reist in verschiedenste Kulturen und fördert deren Entwicklung. Die kroatische Delegation schilderte, wie die anthroposophische Bewegung dort – am Geburtsort Steiners – aufblüht.

Die nächsten 100 Jahre

Die vom anthroposophischen Geist berührten und beseelten Menschen, die Anthroposophie praktizieren, versammelten sich und gedachten diesem Geist. Was Rudolf Steiner in der Spanne und Weite seines 64 Jahre dauernden Lebens an geistiger Substanz entfaltete, das hat das Rudolf Steiner Archiv in der nun abgeschlossenen Gesamtausgabe kondensiert. Im Studium und Gespräch, in Anwendung und Experiment entfaltet sich dieses so konservierte Wissen von Neuem. Die Bedingungen für dieses neue Lebendigwerden auszuloten, auch dafür diente das Wochenende. So wechselte häufig der Blick zurück mit der Perspektive ins zweite Jahrhundert nach Rudolf Steiner. Dieser zweite große Schritt wird einen ganz anderen Charakter haben, als der erste. Er führt zur Frage: Welchen Beitrag kann die Anthroposophie in einer Welt leisten, in der die künstliche Intelligenz eine immer wichtigere Rolle spielt und das Feuer der Kulturkonflikte offenbar oder heimlich brennt? Das Verlebendigen des Denkens und das Durchstrahlen des Erkenntnislichtes in den Kern der Kulturen seien ihre Mission. Sei ein neuer Mensch jeden Tag!


Bilder von den Feierlichkeiten in Dornach. Fotos: Xue Li

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