Mit der Publikation von GA 265a schließt der Rudolf Steiner Verlag eine wichtige Lücke zur Dokumentation der Esoterischen Schule. Alexander Höhne und Ron Dunselman haben das Buch gelesen.
Rudolf Steiner entwickelt seine anthroposophischen Aktivitäten aus seiner Arbeit innerhalb und für die Deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft (TG) im deutschsprachigen Europa. 1902 wird er ihr Generalsekretär, 1904 Landesleiter der Esoterischen Schule (ES) für Deutschland (vgl. GA 264, S. 24) und 1907 kann er seine eigene Arbeitsweise im Sinne der westlich-christlich-rosenkreuzerischen Tradition aufbauen, bestätigt durch die damalige Leiterin der TG, Annie Besant.
Die Esoterische Schule der TG wird seit ca. 1888 als selbstständige Nebenorganisation der TG geführt und ist mit starken Schweigegelübden vor der Neugier bloß Interessierter geschützt. Das ist in mancher Hinsicht auch heute noch so, auch wenn Annie Besant trotz Schweigegelübde einige Instruktionen von Helena Petrovna Blavatsky nach deren Tod veröffentlicht hat, und inzwischen weitere Dokumente veröffentlicht wurden.
Ein aktueller Vertreter der Tradition der Esoterischen Schule der TG im Westen ist Pablo Sender. Er arbeitet für die Theosophische Gesellschaft in den USA. Es ist zu bedenken, dass es traditionell nur fortgeschrittenen Mitgliedern der ES möglich war, leitende Positionen in der TG einzunehmen, wie unter anderem der Kenner interner Verhältnisse, John Alego, berichtet hat. Es ist also davon auszugehen, dass Rudolf Steiner ein von der Leitung der TG und ES anerkannter Schüler und ab 1904 bis zur Trennung von der TG auch ihr Repräsentant war. Das bedeutet, dass er bereits vor seiner Berufung zum Generalsekretär 1902 ein bekanntes, anerkanntes und herausragendes Mitglied der ES der Theosophischen Gesellschaft war. Diese Mitgliedschaft und Zugehörigkeit ist die Basis seiner eigenen Schulungsangaben und des Aufbaus seiner eigenen Arbeit.
Zur ES der Theosophischen Gesellschaft gehörte neben der meditativen Schulung durch esoterische Stunden und Texte auch eine rituelle oder – moderner gesprochen – performative Arbeit. Diese wird als erkenntnissymbolische oder erkenntniskultische Arbeit bezeichnet. Für diese Praxis hatte Helena Blavatsky die rituellen Formen einer sogenannt ägyptisch-masonischen Tradition eingeführt, die sie von Garibaldi gelernt hatte. Ihre Lehr- und Praxisberechtigung wurde ihr vom damaligen Großmeister des Memphis-Misraïm-Ordens, John Yarker, bestätigt. In dieser Arbeit waren immer auch Frauen, mit gewissen Einschränkungen, zugelassen. Diese Einschränkungen führten bei der Nachfolgerin von Blavatsky, Annie Besant, zur Hinwendung zur damals neu begründeten rituellen Arbeit im ‹Droit Humain›, für die sie später selbst ein Ritual entwickelte. In dieser Arbeit sind Männer und Frauen gleichberechtigt.
Es ist davon auszugehen, dass sowohl Marie Steiner als auch Rudolf Steiner alle ihnen zugänglichen Grade absolviert haben. Für den Aufbau einer selbstständigen Abteilung der ES in der TG benötigte Rudolf Steiner der Tradition nach zudem ein entsprechendes Patent. Das sollte er von Theodor Reuß, dem damals Zuständigen des Memphis-Misraïm-Ordens für Deutschland, bekommen. Die Gepflogenheiten innerhalb dieses Ordens waren für Rudolf Steiner allerdings wenig befriedigend, weswegen er nach Erteilung des Patents seine Arbeit selbstständig und gewissermaßen neu aufbaute. Dass er sein Wirken in der masonischen Misraïm-Arbeit auch nach 1904 oder 1907 ernst genommen hat, kann man unter anderem an den ägyptischen Szenen im vierten Mysteriendrama, ‹Der Seelen Erwachen›, von 1913 sehen.
Die Mysteriendramen zeigen zugleich die Suche nach einer neuen Form der Tempelarbeit, die Rudolf Steiner bis zu seinem Lebensende leider nicht mehr bis in eine eigene Ritualistik ausgestalten konnte. Die Rituale der Christengemeinschaft sind dafür keinerlei Ersatz, da sich diese nicht an die sogenannte Kain-Strömung der praktisch arbeitenden Anthroposophinnen und Anthroposophen richten. Die masonischen Rituale sind kein eigentlicher Gottesdienst, sondern eine performative, gemeinschaftliche Vertiefung in spirituelle Weisheiten und Prozesse in symbolischer und sinnbildlicher Form. Dazu führte Steiner in ‹Mein Lebensgang› aus: «Im Besitze der formellen Diplomierung wurde nur solches gepflegt, das sich als Verbildlichung der anthroposophischen Erkenntnis ergab. Und getan ist dies worden aus dem Bedürfnis der Mitgliedschaft heraus. Man strebte neben der Verarbeitung der Ideen, in die gehüllt die Geist-Erkenntnis gegeben wurde, etwas an, das unmittelbar zur Anschauung, zum Gemüt spricht.» (GA 28, Esoterische Unterweisungen, S. 447)
Aus dieser besonderen Arbeit von Rudolf Steiner und den darin Engagierten gab es bisher kaum veröffentlichtes Material. Und so ist es für Menschen wie mich, die daran ein besonderes Interesse haben, ein großes Glück, dass nun in GA 265a verschiedene Aufzeichnungen von Menschen zu finden sind, die an diesen Arbeiten teilgenommen haben.
Im Rudolf Steiner Archiv in Dornach finden sich verschiedene Aufzeichnungen, die zeigen, dass Marie Steiner die Buchhaltung dieser Organisation führte. Diese zeigt, dass um 1914 noch mehr als 600 zahlende Mitglieder zu dieser Abteilung der ES gehörten. Rudolf Steiner legte zu dieser Zeit sein Amt als Großmeister nieder und ließ die Arbeit nach und nach einschlafen. Einzelne Gruppen arbeiteten dennoch selbstständig weiter. Rudolf Steiner wollte diese Arbeit in der Zukunft auf neuer Grundlage neu aufbauen. Das hängt sicher auch mit den abgegebenen Schweigeverpflichtungen zusammen. Zudem war es wohl erforderlich, sich deutlich von der Entwicklung von Theodor Reuß und seinen Aktivitäten zu distanzieren, mit denen er durch das Patent noch assoziiert war. Reuß hatte sich mit Aleister Crowley verbunden und die Verbindung von ritueller Arbeit und Sexualität für sich entdeckt. Dieser sogenannt linkshändige Weg der Spiritualität war den Anliegen von Rudolf Steiner direkt entgegengesetzt.
Auch wenn der neue Band Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Arbeit in der erkenntniskultischen Abteilung der alten Esoterischen Schule dokumentiert, werden die rituellen Arbeiten nicht besonders fassbar. Diese sind in einem sehr begrenzten Rahmen in GA 265 veröffentlicht worden. Allerdings ist davon auszugehen, dass der Großteil der Dokumente und Aufzeichnungen aufgrund der Geheimhaltungsanforderungen der Veröffentlichung durch Vernichtung entzogen worden ist. Es gibt aus meiner Sicht keine Grundlage dafür, die Arbeiten vollständig zu rekonstruieren. Das ist auch nicht erforderlich, denn Rudolf Steiner entwickelt sich seit den zunehmenden Spannungen zu bestimmten Mitgliedern und Anliegen innerhalb der damaligen Theosophischen Gesellschaft immer selbstständiger. Und das betrifft auch den Aufbau einer neuen Schulung.
Wie die Dokumente in GA 265a zeigen, führt eine direkte Linie der Arbeiten in der alten es in die neue Arbeit, die im Konzept und der ersten Ausgestaltung einer neuen Esoterischen Schule als Freie Hochschule am Goetheanum sichtbar und praktisch werden. Auf Seite 253 in Aufzeichnungen zu einer Zusammenkunft mit Rudolf Steiner vom 27. Mai 1923 von Maria Röschl-Lehrs wird deutlich, dass diese neue Arbeit aus einer neuen Haltung aufgebaut wurde: «Einleitend wurde gesagt, warum jetzt solch eine neue Gruppe wieder möglich ist. Klares Bewusstsein ist nötig. Man war früher mit zu geringem Bewusstsein herangetreten an die Einrichtungen der Anthroposophie.» Und etwas später wird deutlich, dass die Art der Zusammenarbeit nun eine neue werden sollte: «Diese Menschen hier sind nicht von ihm zusammenberufen, sie sind selber zusammengetreten. Er hat es der geistigen Welt abgelehnt, weiter noch selber solche Gruppen zu bilden.»
In diesen Aufzeichnungen von Maria Röschl-Lehrs findet sich unter dem Datum 3. Januar 1924 ein wichtiger Hinweis auf den Charakter der neuen Gesellschaft und das Anliegen der Hochschule: «Hinweis auf die neue Gesellschaft, dass die Begründung erfolgte, ohne den esoterischen Grund zu nennen. (Er hatte vorher gesagt, dass die Begründung esoterische Hintergründe habe.) Esoterik verträgt keine Spielerei, alles Bisherige sei spielerisch gewesen. Jetzt muss offen Esoterik hineingetragen werden ins Leben, von Dornach aus, als dem Zentrum.»
Hier gibt es eine interessante Spannung zwischen innerer Arbeit und dem begrenzten Kreis engagierter und fortgeschrittener Studierender und Mitarbeitender, den praktischen Lebensanforderungen und der allgemeinen Öffentlichkeit. Esoterik meint ja immer einen begrenzten Kreis besonders interessierter und vorbereiteter Menschen. Sie ist immer ein Bekenntnis zu einer Art Nischendasein. Das schließt nicht aus, dass von solchen Spezialisten wesentliche Gestaltungsimpulse in die allgemeine Öffentlichkeit wirksam werden. Hierzu findet sich in GA 260 vom 1. Januar 1924 das Anliegen Rudolf Steiners: «Aufrichtig und ehrlich für Anthroposophie wird in den verschiedensten Lebensgebieten in der Zukunft von hier aus, von Dornach aus, gearbeitet werden in voller Öffentlichkeit.» (S. 253) Alexander Höhne
Es ist sehr erfreulich, dass dieser umfangreiche und letzte Band, folgend auf GA 265 ‹Zur Geschichte und aus den Inhalten der erkenntniskultischen Abteilung der Esoterischen Schule von 1904–1914›, erschienen ist! Es macht die Inhalte zur kultisch-rituellen Arbeit, die unter verschiedenen Bezeichnungen (Freimaurerei, Mystica Aeterna, Misraim-Dienst) durchgeführt wurden, jetzt öffentlich zugänglich.
Doch ist wohl einige Vorsicht geboten! Wie die Herausgebenden schreiben, galt in der kultisch-rituellen Arbeit und auch während der Lehr- bzw. Instruktionsstunden, wie bei den Esoterischen Stunden, strenge Geheimhaltung und ein striktes Mitschreibverbot. Es geht hier also um nachträgliche Erinnerungsaufzeichnungen. Das heißt, noch viel weniger als bei wörtlich mitgeschriebenen Vorträgen kann ein Originalwortlaut Rudolf Steiners angenommen werden. «Bestenfalls handelt es sich um Wiedergaben von Inhalten, die in den Stunden mitgeteilt wurden.»1 Am wenigsten spielt dieses Problem meines Erachtens bei den Aufzeichnungen von Lehrstunden eine Rolle, die von drei bis sechs unterschiedlichen Anwesenden unabhängig voneinander nachher aufgeschrieben wurden. Da kann man die Texte vergleichen und eine umfassende Übersicht bekommen. Es gibt im Band ergreifende Gedanken über das persönlich-individuelle Leben und dessen Entwicklung innerhalb von Kosmos, Erde, Natur und materialistischer und mechanischer werdender Kultur. Dabei ist Rudolf Steiner voller Sorgen. Einhundert Jahre weiter sind viele seiner Sorgen unsere tägliche Realität geworden! «Oh, wie brauchen die verdorrende Erde und Menschheit die sprossenden, sprießenden Frühlingskräfte, die durch den Christusimpuls in die Welt hinausgesendet werden können! Und wie seid Ihr – als Mitarbeiter der Götter – berufen, wenn ihr durch die Pforte des Todes gegangen seid, die okkulten Erkenntnisse und Wahrheiten, die Ihr aufgenommen habt, auszustrahlen, herunterzusenden von den geistigen Welten aus auf die Erde, um zu erkraften die Seelen der Menschen […].» Und wie wichtig die Meditation für die Zukunft der Erde und Menschheit ist, weil die dabei aufgebrachte Kraft 25 920 Mal verstärkt wird in ihrer Wirkung im geistigen Kosmos. Wirklich, die Meditation ist von Weltbedeutung!
Eine fast unerschöpfliche Quelle an solchen Inhalten findet man in der GA 265a. Ganz interessant sind die Berichte über fünf oder sechs Esoterische Stunden, die Rudolf Steiner nach einer Pause von Pfingstmontag, 1. Juni 1914, bis 4. Dezember 1921 in neuer Art wieder aufgenommen hat. Auch die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle, der niemand in die geistige Welt hereinlässt ohne gewisse Bedingungen, wird ausführlich und zuversichtlich behandelt. Und am 27. Mai 1923 erklang in Dornach für eine schon länger wirksame esoterische Gruppe eines der Mantren, das später in das Mantrengut der Ersten Klasse aufgenommen wurde. Gerade nach der Weihnachtstagung 1923/24 gab es am 3. Januar 1924 noch eine letzte Zusammenkunft dieser Gruppe. Rudolf Steiner betonte, dass von nun an offen und ernst Esoterik von Dornach als dem Zentrum ins Leben hineingetragen werden muss.
Der Band wird abgerundet mit mehreren undatierten Lehrstunden, Notizblättern mit Freimaurer-Symbolik, Briefen über esoterische Angelegenheiten und einem ‹Zu dieser Ausgabe›. Es folgen Hinweise zum Text, die 86 Seiten umfassen und sehr detailliert sind. Sie geben Verweise zu ergänzender und vertiefender Literatur, die interessierten Lesenden ein weiterführendes Studium ermöglichen. Ron Dunselman
Buch Rudolf Steiner: Lehrstunden für Teilnehmende der erkenntniskultischen Arbeit 1906-1924. Nach Erinnerungsaufzeichnungen von Teilnehmenden. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2024.