Einladung zur Ich-Erfahrung

Dieses Buch ist ein gelungener Versuch, Rudolf Steiners Ausführungen zum Ich aus dem Wirken des eigenen Ich schöpferisch zu begegnen.


Aus den Forschungswegen der Autoren zeigt sich ein Pfad, auf dem die vielfältigen Dimensionen der Ich-Erfahrung individuell vertieft und für die Welt manifestiert werden können. Dieser Pfad wird – eine Anregung von Verena Staël von Holstein aufgreifend – als anfänglicher Beitrag zu einer Ichologie vorgestellt. Das Buch will einen Logos entfalten – als lebendige Denk- und Wortkraft verstanden –, der das Ich als lebensnotwendige Quelle und Mitte des Menschseins, als ‹den Menschen selbst› erlebbar machen möchte. Und das in einer Zeit, in der die Gegenwart des Ich immer mehr von der automatenhaften, alles gleichschaltenden Tätigkeit der künstlichen Intelligenz ausgeschaltet zu werden droht. Der gemeinte Logos entwickelt sich als fruchtbarer Zusammenklang zwischen Steffen Hartmanns Weg der meditativ gestützten Erkenntnis und Volker Fintelmanns Weg der durch die medizinische Praxis intuitiv geschulten Anschauungskraft. So erweist sich dieser Logos – in Harmonie mit einer Grundbedeutung dieses Wortes – als ein stimmiges Verhältnis zu Wirklichkeit und Wirken des Ich. Ein durch sieben Kapitel gestaltetes, musikalisches, symphonisches Ereignis vergegenwärtigt das Ich. Das Buch wird durch ein Präludium von Fintelmann eröffnet und lädt dann auf einen Erfahrungsweg ein. Das Ich wird als reine Form und reiner Wille – seinem Wesen nach sanft – erlebbar. Weiter führen die Autoren durch die Evolution des Menschen-Ich vom Menschheits-Ich zum Individual-Ich, die sich, durch den Christus und die geistigen Hierarchien bewirkt und begleitet, vom alten Saturn bis zur Jetztzeit ereignet. Als Mitte stellt sich der Weg des mikrokosmischen Ich von der Philosophie zur Anthroposophie beziehungsweise zur Erkenntnisentwicklung dar, die sich im Werk Rudolf Steiners urbildhaft manifestiert. Im fünften ‹Satz› geht es um das Wirken des Ich in Menschenseele und Menschenleib, mit besonderer Aufmerksamkeit auf Herz, Schilddrüse, Leber und Skelett, um in einer Betrachtung der sieben johanneischen Ich-bin-Worte als Weg zum Ich zu kulminieren.

Ichosophie

Der von Hartmann verfasste Nachklang und Ausblick bietet einen knappen Überblick über die bisherige anthroposophische Forschung zum Ich sowie über offene Fragen, die sich auf das Verhältnis des Ich zu den verschiedenen Inkarnationen beziehen, insbesondere was Moralität, Freiheit und Liebe betrifft. Das Verklingen beim siebten Gestaltungsschritt, ohne dass ein achter Schritt gegangen wird, ist ein stimmiges musikalisches Bild unserer Zeit: Das Septime-Erleben führt an eine Grenze des Ertragbaren, denn «in der Septime können wir uns verlieren; das ermöglicht aber auch, sich neu zu finden». Dieses Bild verdichtet die Signatur unserer so spannungsreich gratwandernden Gegenwart, in der die Sehnsucht nach der Ich-Oktave in uns erwacht und erklingt, die Oktave aber noch Zukunftsmusik ist: «Noch können wir das Wesen der Oktave nicht voll erfassen. In der Oktave kommt mir mein höheres Wesen durch den Christus entgegen und vereinigt sich mit dem Grundton», das heißt mit dem ‹Ich bin, der Ich-bin›. Die so angedeutete Schwelle, die von der Septime zur Oktave hinüberleitet, könnte als die Schwelle betrachtet werden, die von einer Ichologie zu einer Ichosophie – Fintelmann verwendet diesen Begriff im Vorwort – führt. Das 5. Kapitel zum Wirken des Ich in Seele und Leib zeigt am überzeugendsten, wie diese Schwelle sich öffnen kann, insbesondere wo die vier Ich-Ströme zum Leib in ihrer mit den Ätherarten verbundenen Wirkung im menschlichen Organismus höchst fruchtbar charakterisiert werden. Das geschieht in schöpferischem Zusammenklang mit den Anregungen von Steiner in ‹Erdenwissen und Himmelserkenntnis› (GA 221, 11.2.1923). Dieses Kapitel kann als mustergültige Fortsetzung des Ansatzes betrachtet werden, den Steiner im Buch ‹Anthroposophie› (GA 45) initiieren wollte, indem er zur Vertiefung des ganzen Sinnesorganismus ausgehend vom Ich-Erlebnis einlädt. Wie Steiners Buch, so lässt auch dieses Kapitel verstehen, einerseits dass eine zukunftsträchtige Menschenkunde nur ausgehend vom Ich ausgebaut werden kann, andererseits dass eine solche Menschenkunde als das königliche Tor wahrzunehmen ist, durch das Anthroposophie ihr heute dringend benötigtes Spezifisches offenbaren kann: ihr Wesen – hier verbal verstanden! – und Wirken als Ichosophie.


Fußnote Zitate stammen aus dem Buch.

Buch Volker Fintelmann, Steffen Hartmann, Auf der Suche nach dem Ich. Beiträge zu einer Ichologie, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2024.

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