Ein Kongress bewegt

Inklusion ist, wenn auch Menschen ohne Behinderung willkommen sind. In diesem Sinne fand im Juni 2022 im Zürcher Volkshaus während vier Tagen der inklusive Kongress ‹Grenzen bewegen› statt. Über 500 Menschen aus ganz Europa kamen zu einem Fest der Begegnung und des Austausches zusammen, um die Grenzen zu würdigen, zu erweitern und zu überwinden. Ob mit oder ohne Behinderung: Mit jedem Tag des Kongressgeschehens wurde diese Frage nebensächlicher.


Der Wunsch, einen internationalen Kongress für Menschen mit Behinderung durchzuführen, keimte im Jahr 2019. Zwei Menschen mit Autismus wollten nicht hinnehmen, dass die Reihe europäischer Kongresse mit einer solchen Stoßrichtung zu Ende sein soll, weil sich niemand mehr fand, der einen derartigen Kongress stemmen wollte. Sie scharten Menschen um sich, um der Kongressidee näherzukommen. Und vor allem: Sie scharten die richtigen Menschen um sich, sodass bald ein Organisationskomitee von elf Personen mit und ohne Behinderung entstand, das neben ideellen Fähigkeiten auch handfeste Kongresserfahrung vereinte – und den Willen hatte, die Herausforderungen anzunehmen, welche die Organisation eines so grossen Kongresses mit sich brachte. Die Hauptlast trugen der Verband für anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie Schweiz (VAHS), socialartist.events und der Verein Zürcher Eingliederung.

Geplant war der Kongress auf den Sommer 2021 – und musste wegen der Pandemie abgesagt werden. Nun galt es, den Impuls und das bisher Angedachte zwar auf die lange Bank zu schieben, nicht aber abflauen zu lassen.

«Gelungen!», kann man im Rückblick auf den Kongress nur sagen. Schon zu Beginn gab es viel Jubel, als die verschiedenen Länderdelegationen begrüßt wurden. Deutschland und die Schweiz waren naturgemäß am Kongress am stärksten vertreten. Doch auch Georgien, Rumänien, Portugal und Großbritannien glänzten mit einer ansehnlichen Gruppe von Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Insgesamt elf Länder waren am Kongress vertreten. Auch aus Russland hatte sich eine Person angemeldet, konnte aber wegen der Weltlage nicht anreisen. Stattdessen sandte sie eine Videobotschaft, die wiederum freudigen Applaus erntete. Der erste Tag war dem Ankommen gewidmet und schloss mit einem gemeinsamen Abendessen.

Bunter Strauß an Arbeitsgruppen

Am nächsten Vormittag ging es zur Sache. Bevor die rund 25 Arbeitsgruppen ein erstes Mal zusammenfanden, erhielten die Kongressteilnehmenden Impulse zum Thema Grenzerlebnisse in Form einer literarischen Lesung und zweier Kurzreferate, die alle drei unter die Haut gingen.

Wie sorgt man dafür, dass mehrere Hundert Teilnehmende in nützlicher Frist zu ihren Arbeitsgruppen finden, die vor Ort, aber auch in der näheren und weiteren Umgebung des Zürcher Volkshauses stattfinden? Ohne die große Schar von Schülerinnen und Studenten von lokalen Schulen und Ausbildungsstätten wäre bereits am ersten Kongressmorgen das Chaos ausgebrochen. Stattdessen schwärmten die Gruppen unter kundiger Führung vom Festivalzentrum in alle Himmelsrichtungen und fanden rechtzeitig ihren Trommelkurs, das Chorsingen oder Arbeitsgruppen zu Themen wie Selbstbestimmung in Institutionen, Mein Raum auf Erden, Umgang mit Grenzverletzungen und, und, und …

Nach dem gemeinsamen Mittagessen dann die Schifffahrt auf dem Zürichsee: die ‹Panta Rhei› zum Bersten voll, die Stimmung einfach einzigartig. Überhaupt die Stimmung! Der ganze Kongress war geprägt von einer Herzlichkeit, einer Echtheit der Gefühle, wie man sie selten antrifft. Nicht nur Ausgelassenheit, auch Momente höchster Konzentration stellten sich ein. Etwa während des öffentlichen Bühnenprogramms am Abend unter dem Motto ‹Spiel ohne Grenzen›. Im Zentrum stand das Tanzprojekt ‹Human›: Schülerinnen und Schüler einer Waldorfschule und junge Menschen mit Behinderung brachten tanzend Teile der un-Menschenrechte auf die Bühne. Diese wurden so auf eindrückliche Art erlebbar.

Krachende Kongressparty

Die Tage flogen dahin. Schon war der letzte volle Kongresstag angesagt. Zunächst mit einem Podiumsgespräch zum Thema ‹Grenzgängerinnen und Wegbereiter›: Nicht eine Diskussion, bei der Argumente durch den Raum geschleudert werden, fand auf der Bühne statt, sondern ein sensibel moderierter Gedankenaustausch zu Erfahrungen ‹an der Grenze›. Grenzerfahrungen sind ja oft eine Zumutung. Doch wenn man Ja dazu sagen kann oder die Grenzen gar ausgeweitet oder überwunden werden können, so führt dies zu Selbstermächtigung und damit zu Freude und Erfüllung.

Nach dem eher besinnlichen Einstieg in den Morgen begaben sich die Menschen wieder zu ihren Arbeitsgruppen, die einen ebenso nachdenklich wie das Podiumsgespräch, die andern aber durchaus bewegungsorientiert, wie etwa die Volkstanzgruppe oder der Trommel-Workshop unter dem Motto ‹Große Trommeln, kleine Trommeln, alle sind willkommen›.

Nachmittags Exkursionen wieder in alle Himmelsrichtungen: Stadtführungen historisch und kunstaffin, Flughafen, Fernsehstudio Leutschenbach, Sternwarte – und bei Weitem am beliebtesten: Ausflug in die Schokoladenfabrik … Ein Schlaraffenland nicht nur für ausländische Gäste.

Abends die große Kongressparty. Als Hauptact traten Los Incluidos auf, die Inklusionsband der Sonnhalde in Gempen, Schweiz, mit Alexander, dem furiosen Leadsänger. Wie einst Mick Jagger jagte er auf der Bühne hin und her, vollführte spektakuläre Sprünge und sang auch noch dazu: ‹A Star was born›. Der Saal tobte. Was für ein unbändiger Kongressabschluss! Die Bühne und der Saal schienen viel zu klein für so viel Unbeschwertheit und Lebenslust.

Am letzten Morgen galt es Abschied zu nehmen, Danke zu sagen und aufzubrechen, zurück in die Grenzen des Alltags, die womöglich etwas durchlässiger geworden, bestimmt aber in Bewegung geraten sind. Der Kongress war für alle ein Erlebnis, eine Erfahrung, die nicht so schnell vergessen geht. Danke Zürich!


Foto: Wolfgang Held

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