Geschichten für andere zu schreiben, kann heilen – die anderen und uns selbst. Dieser Text ist eine schriftliche Reflexion des Vortrags, den Gleice da Silva am 3. Oktober auf der Jubiläumstagung für inklusive soziale Entwicklung am Goetheanum gehalten hat.
«Ein kleiner Samen, den ich säe,
Ein wenig Erde, um zu wachsen,
Ein kleines Loch, ein kleines Klopfen,
Ein kleiner Wunsch, und das ist es.
Ein wenig Sonne, ein kleiner Guss.
Eine kleine Weile – und dann: die Blume.»
In meinen jungen Jahren als Heilpädagogin sang ich dieses Lied jeden Frühling in der Schule, wenn es Zeit war, den Garten zu bepflanzen. Das Lied wird von wunderbaren Handgesten begleitet, die die Kinder schnell lernten. Als Lehrerin suchte ich immer nach Geschichten und Bildern – erzählten oder gesungenen –, die uns begleiten und helfen konnten, aus den kindlichen Erfahrungen Sinnvolles zu machen.
Geschichten sind essenziell für unser eigenes Wachstum und auch für die inklusive soziale Entwicklung. Und Geschichten sind nicht nur für Kinder, sondern für jeden Menschen. Ich möchte erkunden, wie Geschichten wirken und wie wir mit ihnen wirken können. Dafür eine Geschichte:
«Ein Vater kommt zu seiner Tochter und zeigt ihr ein Samenkorn, das, wie er ihr sagt, magische Kräfte hat. Er erzählt ihr, dass die Magie hervorkommt, wenn sie es einpflanzt und eine Pflanze entstehen wird. Das Kind staunt und wundert sich und pflanzt den Samen ein. Der Vater erzählt auch, dass sie geduldig sein und die Pflanze pflegen, sie gießen und sie beobachten muss. Das Mädchen will die Magie sehen, also tut es all das und wartet und kümmert sich. Manchmal fragt es sich, ob jemals irgendetwas aus der Erde kommen wird. Doch dann passiert es; der Keimling kommt hervor und das Kind, voller Freude und Aufregung, läuft zu seinem Vater, um ihm das Wunder zu zeigen. Der Vater gibt dem Kind auf, weiter zu gießen und sich um die Pflanze zu sorgen, sodass noch mehr Magie geschehen kann. Und das Kind, das seinem Vater nun wieder glauben kann, tut das und kann zuschauen, wie ein Blatt nach dem anderen hervorkommt und sich schließlich die Blüte mit ihren bezaubernden Farben und Düften zeigt. Dann sieht das Kind, wie die Pflanze verwelkt, was es ein wenig traurig macht, bis es schließlich die Samen findet, die genauso aussehen wie der Samen, den es von seinem Vater bekommen hat. Und zu seinem Erstaunen gibt die Pflanze ihm nicht nur ein, sondern viele Samenkörner. Und das Kind denkt: Mit diesen Samen kann ich noch mehr Magie schaffen.»
Zwei Dinge sind in dieser Geschichte wichtig. Erstens pflanzt das Kind selbst den Samen und erlebt unmittelbar seine Magie. Und zweitens wird das Vertrauen des Kindes in seinen Vater (der natürlich auch eine andere Bezugsperson hätte sein können) gestärkt, indem es ihm vertraut und darin bestätigt wird.
Links: Teilnehmende des Workshops von Gleice da Silva; rechts: Teilnehmende eines Workshops auf der Tagung. Fotos: Matthias Spalinger
Meine erste Begegnung mit dem ‹Heilpädagogischen Kurs› von Rudolf Steiner kam durch meinen damaligen Dozenten und heutigen Freund, Jan Göschel, zustande. In meinem ersten Ausbildungsjahr an der Camphill Academy hatte ich einen Kurs bei ihm. Er führte uns Studierende durch den Prozess der Kinderbetrachtung. Ein Hauptprinzip dabei war eine kontemplative Übung. Sie bestand darin, das Kind mit in unseren Schlaf zu nehmen, indem man fragte, wie man das Kind unterstützen konnte: Wer bist du? Was kann ich für dich tun? Wie kann ich dich besser verstehen? Dann sollte man das Kind während des Tages aufmerksam beobachten und bemerken, was es mag und nicht mag, wie es sich bewegt oder sich selbst ausdrückt.
Ich kam von einem umfangreichen Biologiestudium und mir war daher klar, wie wichtig Disziplin ist, wenn man etwas lernt und testet. Aber ich wusste wenig von kontemplativer Arbeit. Ich übte eine Woche lang und nichts schien sich mir zu zeigen. Ich war frustriert. Jan ermunterte mich, es weiter zu versuchen, was ich auch tat, wenn auch freudlos. Ich versuchte es eine weitere Woche lang und hatte weiter nichts zu berichten. Wieder wurde ich ermutigt, dranzubleiben. Nach über zwei Wochen war ich kurz davor aufzugeben, als ich einen Traum hatte. Ich sah, wie mein Schüler als Marionette an Fäden an einem Puppenspieler hing, der mit ihm spielte. Dieses Bild war so eindrücklich und aufschlussreich, dass es etwas zu meiner Kinderbetrachtung beitrug und meinen Ansatz für die therapeutische Arbeit mit diesem Kind für den Rest des Jahres bestimmte.
Wie das Kind in der Geschichte mit dem Samen erlebte ich die reale spirituelle Substanz, die meine Studien und praktische Arbeit ausmacht. In mir wuchs das Vertrauen in meinen Dozenten und später in die Arbeit von Rudolf Steiner. Dieser früher Samen – meine Erfahrung, wie wirksam es ist, schwierige Situationen mit in die Nacht zu nehmen – wurde zu einem entscheidenden Werkzeug in meiner Arbeit mit inklusiver sozialer Entwicklung.
Samen der Seelenpflege
Ein anderer wichtiger Samen, der früh in mir gepflanzt wurde, kommt aus dem ‹Heilpädagogischen Kurs› selbst. In meinem dritten Ausbildungsjahr begannen wir das Studium dieses Werks von Steiner. Eine ganz eindrückliche Erfahrung, in der sich etwas Magisches zeigte, geschah, während ich das Vorwort von Albrecht Strohschein las. Er beschreibt, wie es zu dem Namen seiner Einrichtung gekommen war. Er berichtet, dass es für Steiner wichtig war, dass es ‹Heil- und Erziehungsinstitut für Seelenpflege-bedürftige Kinder› hieß, dabei das Wort ‹Seelenpflege› großgeschrieben. Sie sollten das so umsetzen, damit die unterstützten Kinder nicht einfach als ‹behindert› abgestempelt wurden1. Strohschein hebt das hervor, wenn er schreibt:
«Nun erst ging mir langsam auf, dass Seelenpflege etwas war, was zu jeder Erziehung gehörte und was jeder Mensch zu treiben in die Lage kam; es war also nichts, was unsere Kinder abtrennte von anderen. Und damit hatten die künftigen Statuten unserer Heilpädagogik ihren Namen erhalten.»2
Ich erinnere mich, wie ich diese Passage las und unterstrich, und ich schrieb an den Rand daneben: Jeder Mensch braucht Seelenpflege. Diese Erkenntnis, dass wir alle ein wesentlicher Bestandteil der Heilung durch Heilpädagogik sind, war außerordentlich für mich – wir machen Heilung nicht nur verfügbar, wir erhalten sie auch selbst. Selbst, wenn das nicht das wäre, was Steiner zu seiner Zeit meinte, ist es das, was ich von diesem Hinweis mitnahm.
In meinem letzten Jahr an der Akademie schrieb ich eine heilsame Geschichte für ein Kind in unserer Obhut. Diese Geschichte hinterließ einen starken Eindruck bei mir. Ich fühlte, dass das Kind und ich, also wir beide durch den Prozess des heilenden Schreibens verändert worden waren. Das waren die ersten Lernerfahrungen, die ich mit heilsamen Geschichten machte. Ich arbeitete weiter daran in meiner Masterarbeit und vor allem in meinem eigenen Unterricht.
Neben meiner Arbeit mit Kindern habe ich auch Workshops für Erwachsene geleitet. Eine Hauptsache darin war das Schreiben von Geschichten. Dafür haben wir uns in Paare aufgeteilt und jemand begann eine Erfahrung, die sich wie eine kleine Wunde anfühlt (kein Trauma!), mit einem Gegenüber zu teilen. Wer die Geschichte empfing, schrieb dann eine Geschichte über diese Wunde.
Bei der letzten Tagung in Dornach durfte ich solch einen Raum öffnen und es war offensichtlich, wie sich die Menschen durch die Geschichten gesehen fühlten. Ein Mensch sagte mir, dass das Schreiben für jemand anderen einzigartig gewesen sei, weil es einen warmen Herzraum anspricht. Dieses In-Bewegung-Bringen der Herzkräfte ist genau das, was ich über die Jahre beobachtet habe, jedes Mal, wenn durch eine Geschichte Kontemplation und die Sorge um jemanden zusammenkommen.
In den letzten Jahren habe ich als Teil des ‹Anthroposophical Prison Outreach›-Programms in Amerika Briefe an Menschen im Gefängnis geschrieben.3 Einer dieser Gefangenen, nennen wir ihn Jonah, hatte große Schwierigkeiten. Ich bot ihm an, ihm eine heilsame Geschichte zu schreiben. Ich wollte ihm ein mögliches Bild der Hoffnung mitgeben im Angesicht der Hoffnungslosigkeit, die er erlebte.
Hier folgt ein Teil des Anfangs der Geschichte, die ich für Jonah schrieb: «Der Wald war dunkel. Er konnte nichts sehen. Er konnte nur den Klang einer Frauenstimme hören, die rief: ‹Komm zu mir! Ohne Scham, ohne Furcht. Ich werde dich durch deine Tränen und Schrecken tragen.› Er hatte Angst und er hatte schon viel zu viel geweint, bis er aus dem dunklen Wald nicht mehr hinausfand. Der Wald verschlang ihn mit seinen langen dunklen Ästen und leisen Geräuschen. Er hatte sich verirrt und wusste nicht mehr, in welche Richtung er gehen sollte.»
Die Geschichte endet so: «Er öffnete seine Augen und kehrte von diesen süßen Kindheitserinnerungen zurück. Er wurde gewahr, dass er immer noch im dunklen Wald war; alles um ihn war dunkel und er hatte sich immer noch verirrt. In diesem Augenblick verstand er, dass die Stimme, die er gehört hatte, die seiner Großmutter gewesen war. Die Stimme erklang erneut, süß wie der murmelnde Bach und mächtig wie die Berge, die er früher erblickt hatte: ‹Mach einen Schritt! Hab keine Angst, ich bin bei dir.› Dieser Stimme folgend machte er einen Schritt und einen weiteren und noch einen und noch einen. Er wusste, dass er sich im dunklen Wald verirrt hatte, aber dass er nicht allein war. ‹Meine Großmutter ist bei mir›, dachte er. Er schloss seine Augen wieder und hielt sich an dem warmen, liebevollen Gesicht, den guten Düften aus ihrer Küche fest und fühlte ihre Umarmung. Er tat noch einen Schritt vorwärts – in Richtung des Lichts.»
Der Brief brauchte eine lange Zeit, um Jonah zu erreichen, und seine Antwort brauchte noch länger. Aber Zeit ist ein Teil des Heilungsprozesses, der sehr wichtig ist. Jonah antwortete mir schließlich:
«Die Geschichte, die du mit mir in Gedanken geschrieben hast, kann ich nicht fassen – ich kann nicht fassen, dass du sie für mich geschrieben hast. Du hast dir die Zeit genommen, etwas Persönliches für mich zu tun, weil du dich für mich interessierst. Ich dachte oder glaubte, dass ich hier auf den Tod warte. Dass ich ganz allein auf der Welt bin. Du hast wirklich ein Licht der Heilung in meine Welt gebracht. Danke schön!»
Ich bat Jonah, der Geschichte einen Namen zu geben, und er wählte seine zwei Vornamen, gefolgt von den Worten: «Komm zu mir!»
Links: Teilnehmende eines Workshops auf der Tagung; rechts: Stefan Hasler, Eduardo Rincon und Ueli Hurter am Festabend, Fotos: Matthias Spalinger
Rettung von Mensch zu Mensch
Ich denke, dass meine Geschichte und die Geschichten der Menschen, die ich auf der Tagung in Dornach traf, ein Zeugnis sind für die Kraft der Arbeit, die wir im Feld der inklusiven sozialen Entwicklung anstreben. Es gibt eine Macht in dem, wer wir sind, und in den Werkzeugen, die wir in den letzten 100 Jahren entwickelt haben. Das sind besonders die Werkzeuge der Empathie, uns in die Schuhe eines anderen zu stellen. Für mich sind heilsame Geschichten genau das. Sie nutzen die Kraft der Imagination, um eine andere Wirklichkeit zu erzeugen, und erlauben es, dass festgefahrene soziale Prozesse sich lösen und wir uns selbst anders sehen können.
Überall, wohin ich schaue, gibt es kleine und große Wunden, die von dem profitieren können, was Karl König die «heilpädagogische Haltung» nannte. 1965 hat Karl König, der Gründer der weltweiten Camphill-Bewegung, darüber gesprochen, wie wichtig diese Arbeit für jeden Menschen ist, der seelischer Pflege bedarf. Er sagte, der heilpädagogische Ansatz solle in jedes soziale Arbeitsfeld einfließen – in den geistigen Beistand, in die Altenpflege, in die Rehabilitation psychisch Erkrankter oder Beeinträchtigter, in die Waisen- und Flüchtlingsunterstützung, in die Arbeit mit Suizidgefährdeten und Verzweifelten, aber auch in die internationale Friedensarbeit und andere Ansätze. Er meinte, dies sei die einzige Antwort, um den Abgründen unserer Zeit menschlich zu begegnen. Nur die Hilfe von Mensch zu Mensch, also die Begegnung von ich zu ich, in der wir die Individualität des anderen ohne Urteil begreifen, könne die Art von Heilpädagogik hervorbringen, die heilsam für die inneren Spannungen sei. Dafür brauche es eine vertiefte und verinnerlichte Weisheit.4
Die Samen, die ich ausgebracht habe und die in mich gelegt wurden über die Jahre als Heilpädagogin werden hoffentlich wachsen und weitere Samen für Wandel, Inspiration und Heilung hervorbringen. Heilung für mich selbst und die Menschen mit Assistenzbedarf, aber auch für jeden Menschen, der kämpft und die Magie des Menschseins erleben möchte.
Übersetzung aus dem Englischen von Franka Henn
Titelbild Gleice da Silva (rechts) während ihres Workshops, Foto: Matthias Spalinger
Footnotes
- Rudolf Steiner, Heilpädagogischer Kurs. GA 317, 9. Auflage, Rudolf Steiner Verlag 2024 , S. 227.
- Ebd.
- Anthroposophical Prison Outreach bringt Rudolf Steiners Arbeit zu Menschen in Gefängnissen. Das Programm soll Inhaftierte ermutigen, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Vor allem soll es Selbst-Rehabilitation ermöglichen und unterstützen.
- Aus Karl Königs Ansprache vom 7. Mai 1964 auf der Eröffnungsfeier der Camphill-Schule Föhrenbühl am Bodensee.