Die Reintegration des Menschen in die Kosmologie

Seit mehreren Jahrhunderten vernachlässigte der wissenschaftliche Materialismus die experimentellen Voraussetzungen seiner eigenen Forschungstätigkeit und strebte nach einem äußeren, körperlosen ‹Gottesblick› auf das Universum. ‹The Blind Spot›1 bietet eine philosophische Auseinandersetzung mit der technowissenschaftlichen Zivilisation der modernen Menschheit.


Der Held dieser Geschichte ist die ‹gelebte› oder ‹verkörperte Erfahrung› (‹embodied experience›), etwas ebenso Vergängliches wie Ursprüngliches. Die Autoren vergleichen sie mit dem blinden Fleck in der Mitte unseres Gesichtsfeldes, der durch den Verlauf des Sehnervs durch die Netzhaut entsteht. Anstatt uns zu blenden, ermöglicht uns unsere gelebte Erfahrung, alles um uns herum zu sehen, auch wenn es üblicherweise der normalen Beobachtung verborgen bleibt. Diese bewusste Erfahrung ist kein weiteres Naturphänomen, das die Wissenschaft mit objektiven Begriffen erklären könnte, sondern vielmehr die Grundvoraussetzung der Wissenschaft: Ohne diese Erfahrung gäbe es keine Wissenschaft.

Das unsichtbare Fundament der Wissenschaft

Die angeblich gegenständliche Materie, die das Universum der Physik ausfüllt, entpuppt sich als ideales Konstrukt, das aus einer «aufsteigenden Spirale der Abstraktion» resultiert, die die Unordnung der realen Welt sorgfältig herausfiltert. Die lebendige und farbenfrohe Natur, der wir in der gelebten Erfahrung begegnen, wird in künstlichen Laborbedingungen eingefangen und nach formalisierten mathematischen Konzepten modelliert.2 Solche Bedingungen können eine größere Präzision bei der Messung und Vorhersage ermöglichen, aber dieser instrumentelle Erfolg geschieht auf Kosten der Verbindung zum lebendigen Beziehungskontext des tatsächlichen Weltgeschehens.

Die Autoren von ‹The Blind Spot› versuchen, die menschliche Erfahrung wieder in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Unternehmens zu rücken. Sie legen überzeugend dar, dass der Ersatz der konkreten Realität durch abstrakte Modelle nicht nur zu theoretischen Rätseln führt (z. B. das ‹Quantenmessproblem› oder das ‹schwierige Problem des Bewusstseins›), sondern auch schädliche soziale und ökologische Auswirkungen hat.

Studierende des deutschen Idealismus und der ‹Naturphilosophie› werden sich daran erinnern, dass Goethe in seinem Werk ‹Zur Farbenlehre› (1810) nahezu identische Kritik an der newtonschen Wissenschaft übte. In Übereinstimmung mit der Kritik der Autoren an den Theorien der gegenständlichen Wahrnehmung3 bietet Steiners Weiterentwicklung des Goetheanismus eine Alternative zu der Vorstellung, dass es bei der Erkenntnis darum geht, innere Kopien von äußeren Reizen zu erstellen. Stattdessen ist die menschliche Erkenntnis eine Destillation der Essenz des Wahrgenommenen und eine Geburt der prägenden Muster, die in der Welt der physischen Sinne schlummern. Wie Rudolf Steiner schreibt: «Die menschliche Erkenntnis ist kein außer den Dingen sich abspielender, aus bloßer subjektiver Willkür entspringender Prozess, sondern, was da in unserem Geist als Naturgesetz auftritt, was sich in unserer Seele auslebt, das ist der Herzschlag des Universums selbst.»4

Die lebendige Natur der Wirklichkeit

Nachdem die Autoren die historischen Ursachen für die Auslassung der Erfahrung in der Entwicklung der modernen mechanistischen Physik vorgestellt haben, untersuchen sie deren Auswirkungen auf die zeitgenössische Kosmologie. Die Natur der Zeit steht im Mittelpunkt. Anders als von newtonschen Physikern angenommen, ist die Zeit nicht etwa ein leerer Behälter, in dem sich beständige materielle Entitäten neu anordnen. Sie ist vielmehr ein Ausdruck der sich selbst organisierenden gegenseitigen Abhängigkeit von Wahrnehmungsfakten untereinander. Die lebendige Natur – das heißt die Natur als gelebte Erfahrung – ist ein fortlaufender Prozess der Transformation und Metamorphose, dem nichts Beständiges zugrunde liegt, das alle Veränderungen überdauern würde. In diesem Sinne schreibt Steiner: «Nur einer ganz verfehlten Auffassung des Zeitbegriffes verdankt der Begriff der Materie seine Entstehung» – und weiter im gleichen Buch: «Aufzufinden ist die Materie innerhalb der Erfahrungswelt nirgends.»5

Die Autoren offenbaren dennoch ungewollt, dass Überreste des Modellzentrismus selbst in ihrem eigenen Denken noch vorhanden sind, wenn sie Aristoteles’ geozentrisches Universum mit der vermeintlichen Wahrheit vergleichen, dass die Erde ‹in Wirklichkeit› um die Sonne kreist. Auf den ersten Blick mag es wie eine antiwissenschaftliche Ketzerei erscheinen, das heliozentrische Modell des Sonnensystems zu leugnen, aber Astronomen wissen, dass sich sowohl die Sonne als auch die Erde bewegen. Daher ist die tatsächliche relative Bewegung der Sonne, der Erde und anderer Planeten weitaus komplexer als das einfache Modell eines statischen, sonnenzentrierten Systems, das die meisten von uns im Kopf haben.

Die Tatsache, dass die Verhältnisse der planetarischen Umlaufzeiten nur mit sogenannten irrationalen Zahlen ausgedrückt werden können, führt Steiner zu der Behauptung, dass das Planetensystem, wenn es ein einfaches ganzzahliges Verhältnis hätte, aufgrund kumulativer Störungen irgendwann zum Stillstand kommen und sterben würde.6 Diese Inkommensurabilität der Umlaufzeiten ist daher für das Fortbestehen und die Stabilität des Planetensystems von entscheidender Bedeutung. Sie verhindert, dass die Planeten in ein vorhersehbares und letztlich zerstörerisches Muster fallen. Mit anderen Worten: Was die Autoren von ‹The Blind Spot› über lebendige Organisation und bewusste Erfahrung in der biologischen Welt behaupten – dass sie nicht berechenbar sind –, erweist sich auch im astronomischen Maßstab als wahr.

Ausdruck des Geistes

Die Autoren schließen ihr Buch mit der Forderung nach einer Wiedereingliederung des Menschen in das kosmologische Bild, von dem uns der wissenschaftliche Materialismus zu entfernen versucht hatte. Wenn das Streben nach einer objektiven Sichtweise aus dem Nirgendwo nicht mehr das Ideal sein soll, dann muss die Wissenschaft in partizipatorischen Begriffen neu formuliert werden: «Wir müssen uns als ihre Schöpfer wieder in die wissenschaftliche Erzählung einschreiben. Die Wissenschaft beruht darauf, wie wir die Welt erfahren.»7 Der Mensch ist kein zufälliges Epiphänomen, das aus einer bedeutungslosen Materie entsteht, sondern ein Ausdruck des in seinen kosmischen Ursprüngen verborgenen Geistes.

Die Wissenschaft des blinden Flecks hat unsere Zivilisation dazu gebracht, eine seelenlose Kosmologie anzunehmen, in der Leben und Bewusstsein einfach keinen Platz haben. Die Autoren dieses Buches zeichnen auf hilfreiche Weise eine realistischere kritische Geschichte der modernen Wissenschaft nach, die die methodischen Manöver offenlegt, durch die der Materialismus zu ihrer Standardontologie wurde. Dadurch befreien sie uns, um eine alternative, partizipative Form der wissenschaftlichen Forschung zu verfolgen.


Übersetzung aus dem Englischen von Louis Defèche
Bild Erde, Quelle: Nasa

Print Friendly, PDF & Email

Footnotes

  1. Adam Frank, Marcelo Gleiser, and Evan Thompson, The Blind Spot: Why Science Cannot Ignore Human Experience. MIT Press, 2024.
  2. Ebd., S. xii–xiii.
  3. Ebd., S. 163 ff.
  4. Rudolf Steiner, Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften. GA 1, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1987.
  5. Ebd.
  6. Rudolf Steiner, Interdisciplinary Astronomy, GA 323, SteinerBooks, 2020.
  7. siehe 1, S. 251.

Letzte Kommentare