Die Konsens­fabrik und die Quellen der Ungerechtigkeit

Kürzlich wurde das Gerücht verbreitet, dass Noam Chomsky, der in Brasilien im Krankenhaus lag, gestorben sei. Es stellte sich als falsch heraus, bietet aber die Gelegenheit, an das Werk des 96-jährigen Intellektuellen zu erinnern, in einer Zeit, in der die Welt große Unruhen auf der internationalen Bühne erlebt.


Noam Chomsky wird von vielen als Vater der modernen Linguistik, als ein Aktivist des 20. Jahrhunderts und als der meistzitierte lebende Autor bezeichnet.

«Propaganda ist für eine Demokratie das, was der Knüppel für einen totalitären Staat ist»1, schrieb Chomsky. Das Buch ‹Manufacturing Consent›2 ist wohl sein meistverkauftes und einflussreichstes Werk. Dort zeigt er auf, wie die Massenmedien in demokratischen Gesellschaften, anstatt die Öffentlichkeit objektiv zu informieren, als Propagandasystem funktionieren, das Zustimmung für die Politik der herrschenden Elite und mächtiger Unternehmensinteressen stiftet. Sie tun dies, indem sie die Realität verzerren und das Spektrum akzeptabler Debatten einschränken, selbst wenn innerhalb dieses Spektrums lebhafte Debatten zugelassen werden. Selbst wenn es keine formelle Zensur gibt, werden einzelne Journalisten durch ein Einstellungsverfahren ausgewählt, das diejenigen herausfiltert, die nicht den Interessen der Medienkonzerne entsprechen und die Annahmen der Herrschenden verinnerlichen. Es gibt also keine formelle Zensur, sondern eher eine Selbstzensur von Journalisten und Redakteuren, die instinktiv dem Propagandamodell folgen. Unpatriotische Berichterstattung wird zunehmend mit verschiedenen mehr oder weniger drakonischen Methoden bestraft. «Eine ideologische Struktur muss, um für eine herrschende Klasse nützlich zu sein, die Machtausübung dieser Klasse verschleiern, indem sie entweder die Tatsachen leugnet oder sie ganz einfach ignoriert – oder indem sie die besonderen Interessen dieser Klasse als allgemeine Interessen darstellt, sodass es als selbstverständlich angesehen wird, dass Vertreter dieser Klasse die Sozialpolitik im allgemeinen Interesse bestimmen.»3

Die Geheimnisse der Wörter

In seinem jüngsten Buch4, zusammen mit seinem Kollegen Andrea Moro, warnt Chomsky5 vor der künstlichen Intelligenz. In Form eines Dialogs beginnt das Gespräch mit einer kritischen Betrachtung dessen, was Chomsky als unangebrachte Euphorie im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz betrachtet: Deren starke Abhängigkeit von statistischen Techniken und der Auswertung großer Datenmengen, um Muster zu finden, führe wahrscheinlich nicht zu einem echten Verständnis. Indem er die Komplexität der menschlichen Intelligenz und die einzigartige Fähigkeit, Sprache zu verstehen und zu erzeugen, hervorhebt, weist Chomsky darauf hin, dass die KI noch nicht annähernd in der Lage ist, diese eindeutig menschlichen Eigenschaften zu reproduzieren. Darüber hinaus mag die statistische KI zwar praktische Anwendungen haben, ist aber als wissenschaftlicher Ansatz grundsätzlich unzureichend, um das Wesen intelligenter Wesen und der Kognition wirklich zu verstehen.

Die anschließende ausführliche Erörterung von Moros Ideen über sogenannte unmögliche Sprachen – seine Stärke – deutet auf die Existenz zugrunde liegender Strukturen im Gehirn hin, die unsere Fähigkeit, Sprache zu verstehen und zu verwenden, bestimmen und auf die Möglichkeit angeborener grammatikalischer Strukturen hinweisen, wie sie von Chomskys Theorie der Universalgrammatik vorgeschlagen werden.

Hoffnung auf Wandlung

Nur wenige Denker haben sich so kritisch über die Intelligenzija geäußert wie Chomsky: «Wenn man fünfzig Stunden pro Woche in einer Fabrik arbeitet, hat man keine Zeit, täglich zehn Zeitungen zu lesen und auf freigegebene Regierungsarchive zurückzugreifen. Aber solche Menschen können weitreichende Einsichten in die Funktionsweise der Welt haben.»6

Chomsky erkannte, dass sobald Fragen des Willens, der Entscheidung, der Vernunft oder der Wahl des Handelns auftauchen, die Wissenschaft oft auf verlorenem Posten steht.7 Diese scharfe Perspektive hat den anarchistischen Denker zu einem der freimütigsten politischen Aktivisten werden lassen. «Die intellektuelle Tradition ist eine solche der Unterwürfigkeit der Macht gegenüber, und wenn ich sie nicht verraten würde, würde ich mich schämen.»8 Chomskys Widerstand gegen den Vietnamkrieg und seine Kritik an den US-Interventionen in Lateinamerika und im Nahen Osten haben ihn zu einer prominenten Figur in der Antikriegs-, Atomabrüstungs-, Umwelt- und Menschenrechtsbewegung gemacht.

Als in Südafrika aufgewachsener orthodoxer Jude und Antiapartheidskämpfer wurde ich von Chomskys Ideen, besonders zur Politik Israels, ergriffen. Südafrika brauchte schwarze Arbeitskräfte, während das zionistische Israel (meine Verwandtschaft dort miteinbezogen) die Palästinenser weder wollte noch brauchte. Chomsky argumentiert daher, dass «was Israel in den besetzten Gebieten tut, viel schlimmer als Apartheid ist»9, wenn man es mit der südafrikanischen Apartheid vergleicht. Doch es war nicht nur dieser Aspekt von Chomsky, der mich beeinflusst hat. Er beleuchtet die oft so trübe Dunkelheit von Vorurteilen und Bigotterie und verhalf mir, zu Worten und Ideen zu kommen, mit denen ich die Quellen des Unrechts erst so richtig ergründen konnte.

«Wenn Sie davon ausgehen, dass es keine Hoffnung gibt, garantieren Sie, dass es keine Hoffnung geben wird. Wenn man davon ausgeht, dass es einen Instinkt für Freiheit gibt, dass es Möglichkeiten gibt, Dinge zu verändern, dann besteht die Möglichkeit, dass man dazu beitragen kann, eine bessere Welt zu schaffen.»10


Foto Noam Chomsky in Massachusetts (USA), 2017. Quelle: Wikimedia, CC BY-SA 4.0

Print Friendly, PDF & Email

Footnotes

  1. WBAI, Januar 1992.
  2. E. S. Herman & N. Chomsky, Manufacturing Consent; in Power and Inequality. Routledge 2021.
  3. N. Chomsky, Towards a New Cold War: U.S. Foreign Policy from Vietnam to Reagan. The New Press, New York 1978, S. 93–123.
  4. N. Chomsky & A. Moro, The Secrets of Words. mit Press 2022.
  5. Seit Chomsky im Juni 2023 einen schweren Schlaganfall erlitten hat, berichtet seine Frau über seinen Gesundheitszustand.
  6. D. Barsamian & H. Hamilton, Imperial Ambitions. Henry Holt and Company 2010.
  7. Television interview with N. Chomsky in: Listener, 6. April 1978.
  8. Wolfgang B. Sperlich, Noam Chomsky, Reaktion Books. University of Chicago Press 2006.
  9. Noam Chomsky: Israel’s Actions in Palestine are «Much Worse Than Apartheid» in South Africa, 8. August 2014.
  10. N. Chomsky, American Power and the New Mandarins. Penguin Books, India, 2003.

Letzte Kommentare