Der Zuwachs an Kenntnis befähigt einen, viel deutlicher als bisher auch die Schwächen anderer Menschen wahrzunehmen und je nach Temperament diese anzusprechen beziehungsweise zu kritisieren, womit an die problematische Seite von Wissen, Erkennen und Denken gerührt ist.
Im Durchschauen, im ‹Wissen› liegt immer die Gefahr verborgen, dass es uns nicht nur problembewusst, sondern unter Umständen auch überheblich, arrogant und anmaßend macht. Plötzlich wissen wir ganz genau, was geschehen müsste, was dieser oder jene hätte tun sollen oder können, und bemerken gar nicht, wie wir uns selbst immer mehr auf ein Podest stellen und von dort aus auf die Verhältnisse herabblicken. Aber auch mit der Selbsterkenntnis ist ein Problem verbunden: der Ärger, ja die Verzweiflung darüber, was man alles nicht kann. Man legt dann ein solches Buch wie das von Covey oder Steiner vielleicht mit dem deprimierten Gefühl aus der Hand: ‹Ich weiß ja genau, dass dies alles wahr ist und dass man das eigentlich tun müsste – aber ich kann das nicht.›
Mit diesen Reaktionen sind die beiden klassischen Feinde jeder effektiven Selbsterziehung charakterisiert: Der eine kleidet sich in die Illusion, dass, wenn man etwas verstanden hat und weiß, man dann auch das Recht hat, andere Menschen entsprechend zu be- und verurteilen, die dieses Niveau seiner Meinung nach noch nicht haben – aber eigentlich doch haben müssten. Auch liegt oft die Täuschung vor, etwas ‹zu wissen› bedeute auch schon, dass man ‹es kann›. Der andere Feind kleidet sich in die Resignation, die bis zur Depression gehen kann, dass man sich diesen Entwicklungsweg nicht zutraut und den Mut zum ersten Schritt nicht hat.
Aus Michaela Glöckler, Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung. Stuttgart 1997, S. 23
Graphik Sofia Lismont