Das Thema Führung in Organisationen ist heute sehr lebendig, besonders in Unternehmen, die mit spirituellen Bezügen gegründet werden. Die Spannung zwischen individueller Freiheit und Zusammenhalt in der Organisation, zwischen spiritueller Führung und der Erfüllung der Bedürfnisse der materiellen Welt, muss neu überdacht werden. ‹Good Governance› ist hier eine Brücke.
Governance (Führung) ist ein sozialer Prozess. Seine Geschichte ist so lang wie die der Gesellschaften. Diese Geschichte ist unser kollektives Erbe, und wir tragen sie auf zellulärer Ebene in uns. Bewusst oder unbewusst steckt sie in der Art und Weise, wie wir unser Leben als Individuen und als soziale Wesen gestalten. Als sich das menschliche Bewusstsein von der Organisation um eine amtsbezogene oder theologische Ordnung zu den partizipatorischeren und säkulareren Formen der heutigen Zeit entwickelte, entstanden Regierungen und politische Staaten. Wir verstehen, dass wir in der materiellen Welt regieren müssen, sträuben uns aber gegen die Regelung geistiger Angelegenheiten. Dies ist eine natürliche und berechtigte Spannung. Jeder von uns trägt die allgegenwärtige Überschneidung von geistigen und sozialen Impulsen in sich, das Zusammentreffen unseres Ich mit der Realität der Welt. Wenn wir begreifen, wie wir als Individuen den Fluss zwischen diesen beiden Bereichen steuern, spiegelt sich auch wider, wie wir als Organisationen das kollektive Ich und die Welt regeln könnten.
Führung in der westlichen Kultur
Aus den Gaben unserer Individualität heraus arbeiten wir zusammen. Das ist die moderne Bedingung und ein wachsendes Dilemma, denn die Qualität des Führens und Regierens, die wir in der westlichen Moderne geerbt haben, stammt hauptsächlich aus dem alten Rom. Die Römer waren die Herren der materiellen Welt. Sie entwickelten das Recht in der Form, wie wir es kennen – wenige Mächtige, die Vereinbarungen für viele schaffen – und praktizierten eine imperiale, kontrollierte und zentral gesteuerte Regierungsführung. Im Wesentlichen bedeutete Macht hier ‹Macht über …›. In den Narrativen der westlichen Politikgeschichte sind Formen des Führens verloren gegangen, die aus der Tradition der gemeinschaftlichen Selbstbestimmung stammen und die auf Zusammenarbeit, Vertrauen, Gleichheit und im Idealfall auf Altruismus beruhten – im Wesentlichen also auf ‹Macht mit …›. In solchem Zusammenhang sind Vereinbarungen eher einvernehmlich. Dieses Bild kommt einem jedoch nicht in den Sinn, wenn man das Wort ‹Führung› erwähnt. Stattdessen beschwört das Wort das Bild einer Kraft außerhalb unserer selbst herauf, die im besten Fall unsere Rechte schützt und im schlimmsten Fall versucht, unsere Gedanken zu kontrollieren. Individuelle Freiheit und Herrschaft werden als Polarität und gegensätzliche Kräfte oder als Unterdrückte und Unterdrücker dargestellt. Es ist heute an der Zeit, das zu hinterfragen, und es ist heute die Zeit der hinterfragbaren Autorität.
Man könnte sich vorstellen, dass wir überhaupt keine Governance-Strukturen bräuchten, wenn wir in reiner Liebe und Vertrauen leben würden. Stattdessen würden wir die höchsten altruistischen oder spirituellen Prinzipien in der Gemeinschaft und im globalen Leben erkennen und uns von ihnen leiten lassen – Prinzipien, die so tief in unseren Herzen leben, dass wir keinen schriftlichen Kodex außer der Begegnung von Menschen benötigen würden – ein Bild für eine würdige Zukunft.
Good Governance
Es ist Zeit, der Führung die ihr zustehende Funktion zurückzugeben, die im Dienst von Glaubwürdigkeit, Vertrauen, Transparenz und der Freisetzung menschlicher Fähigkeiten steht. Führen könnte von Rechts wegen aus einer moralischen, ethischen und spirituellen Haltung heraus erfolgen, aus Liebe zur und im Dienste der Menschheit. Materielle Dinge sind notwendig, um reale wirtschaftliche Bedürfnisse zu befriedigen. Aber Macht, Kontrolle über Märkte und Ausbeutung von Kapital haben die Sozialwirtschaft verzerrt und ihre Ungerechtigkeit als einen besonderen Sieg für einige wenige gefeiert. Gute Führung (Good Governance) ist notwendig für das Wohlergehen eines organisierten Lebens und der Menschen. Jedes System, das den Wunsch des Menschen nach und die Bedingungen für seine Beteiligung nicht anerkennt, wird zwangsläufig einen entmenschlichenden Impuls um des Profits willen erzeugen. Die Einlösung eines guten Führens erfordert eine Transformation und eine Erlösung des Selbst, damit neue Vereinbarungen aus dem zutiefst Menschlichen und Geistigen entstehen können.
Individuelle und organisatorische Dreigliederung
Führung ist nichts, was außerhalb von uns liegt. Es ist eine Fähigkeit, die wir hoffentlich innerlich für uns selbst ständig ausüben, während wir unser Leben leben. Wenn wir verstehen, wie wir dazu kommen, uns selbst zu führen, das heißt, wie wir diese innere Fähigkeit von der Geburt bis zum Erwachsenenalter entwickeln, kann dies viel dazu beitragen, unsere Vorstellung von positiver Führung in Organisationen zu erneuern und zu praktizieren. Das Kernziel ist die Umwandlung unserer Annahmen über Macht in eine Struktur der Ermächtigung (Empowerment).
Ein kurzer Streifzug durch die menschliche Entwicklung aus der Perspektive des Regierens und Führens könnte einen Weg der Transformation aufzeigen. In den ersten sieben Lebensjahren lernt das Kind durch seinen Willen. Seine körperlichen Bedürfnisse werden durch Geschenke befriedigt. Das abhängige Kind lernt durch die Art und Weise, wie seine Bedürfnisse befriedigt werden, etwas über Verantwortlichkeit. Es lernt einen Aspekt des wirtschaftlichen Lebens. Die Jahre von 7 bis 14 sind auf das Gefühlsleben ausgerichtet, das Erleben von Sympathien und Antipathien durch Beziehungen. Das Leben mit Rechten und Vereinbarungen, Autorität und Selbstdisziplin sind zentral. Die Jahre von 14 bis 21 konzentrieren sich auf die Entwicklung des Denkens, die Entwicklung eines Gefühls für sich selbst und den Sinn des Lebens. Das eigene Schicksal bzw. das spirituelle Zentrum beginnt sich zu zeigen, ebenso wie das Bewusstsein für die Welt und die Fähigkeit, Verantwortung für andere zu übernehmen.
Rechenschaft (Accountability), Befugnis (Authority) und Verantwortung (Responsibility) sind die drei integralen Bestandteile eines ‹guten Führens› und sollten niemals getrennt werden. Wenn eine der drei Säulen delegiert werden soll, müssen die beiden anderen notwendigerweise als Teil des Prozesses artikuliert und delegiert werden. Andernfalls wird die Führung ineffektiv und führt ein entmenschlichendes Ethos in eine Organisation ein. Stellen Sie sich vor, dass Sie die gesamte Verantwortung für die Erziehung eines Kindes übertragen bekommen, aber keine Befugnis haben, etwas für dieses Kind zu entscheiden. Ineffektive Führung beeinträchtigt die Glaubwürdigkeit einer Organisation.
Die Rechenschaftspflicht betrifft den Bereich der Wirtschaft, der Bedürfnisbefriedigung. Autorität bzw. Befugnis entsteht in der Sphäre der Rechte und Vereinbarungen. Die Verantwortung ergibt sich aus der Sphäre der individuellen Gaben und Fähigkeiten, der kulturellen oder geistigen Sphäre. Im Namen des ‹guten Führens› erhalten die Gründenden einer juristischen Person die gesamte Autorität, Verantwortung und Rechenschaftspflicht vom Staat. Sie müssen über einen klaren Weg und ein Verfahren verfügen, um die Einheit der drei an das Management zu delegieren. Im Idealfall wird diese Einheit durch die gesamte Organisation fließen. Ist die Leitung erst einmal eingerichtet und stimmen alle zu, den Delegationen und Richtlinien zu vertrauen und sie zu befolgen, dann erhalten die drei Prinzipien eine neue und dynamische Qualität. Eine gut geführte Organisation wird ihre kulturelle Freiheit umso eher bewahren, je besser sie ihre Bereiche Wirtschaft, Rechte und Vereinbarungen versteht und verwaltet.
Die vor uns liegende Arbeit
Wir leben in einem Rahmen von Vereinbarungen, mikro- und makroökonomisch, manche unbewusst, manche bewusst, manche verfassungsmäßig, manche zweckmäßig und manche in ständiger Entwicklung. Es gibt jedoch einen einheitlichen Aspekt sinnvoller und konstruktiver Vereinbarungen: Keine Vereinbarung kann einseitig für eine andere Partei getroffen werden. Der konstruktive Zweck von Führung besteht darin, die Grundlage für Verantwortung und Rechenschaft und Befugnis innerhalb einer Organisation zu schaffen und den Zweck zu fördern, für den diese Organisation geschaffen wurde.
Jede eingetragene Organisation muss, auch wenn sie die Gesetze des Landes befolgt, ihre eigenen Führungsentscheidungen in Übereinstimmung mit ihrer Identität, ihrem Auftrag, ihrer Reife und ihrer Strategie treffen. Jede Organisation hat eine Bestimmung – sie wurde zu einem bestimmten Zweck in die Welt gesetzt und arbeitet innerhalb eines Rahmens von Vereinbarungen. Und doch kann der Mensch zwei Wege einschlagen. Der eine Weg ist der direktive Weg, von einer einzigen Quelle ausgehend und die Aktionen und Teilnehmenden in der Organisation kontrollierend. Der andere ist der Weg der Zusammenarbeit, bei dem das Ich in den Vereinbarungen zwischen den Teilnehmenden verankert ist und die Grenzen des Handelns festlegt. Ein Teil dieser Vereinbarungen besteht darin, die Führung auf der Grundlage von Kapazitäten freizugeben. Dieser letztgenannte Weg ist meiner Meinung nach der Weg der Zukunft, aber er hängt vollständig von der Fähigkeit ab, Vereinbarungen zu entwickeln, einzuhalten und sich gegenseitig zur Rechenschaft zu ziehen – in Liebe und Vertrauen.
Übersetzung Gilda Bartel
Grafik Fabian Roschka