Das Künftige voraus lebendig: Der Schlangenträger, ein Kommender

Im nördlichsten Waldorfkindergarten, im nordnorwegischen Tromsø, fiebern die Kinder seit Wochen dem 21. Januar entgegen: Dann werden sie die Sonne wieder am Horizont begrüßen können.


Die Zeit beginnt wieder zu fließen. Nach acht Wochen Polarnacht. Wie unendlich ausgedehnte Heilige Nächte erscheinen diese Wochen. Die Erde hält mit dem Advent den Atem an, der Himmel ist ganz nah. Die Dunkelzeit haben Nordnorweger in ‹Fargetid› (Farbenzeit) umbenennen wollen: dieses besondere Fenster in den Kosmos, mit dem Tanz der Nordlichter und der endlos ausgedehnten Dämmerung mit ihren milden Farben.

Die Monatsmitte Januar – laut Rudolf Steiner der Zeitpunkt, wenn die kristallinen Kräfte erst ganz in der Erde angekommen sind und somit die Bauern zum Meditieren einladen – ist zugleich der Ausklang einer fast dreimonatigen Passage der Sonne durch die niedrigen Tierkreisbilder von Waage, Skorpion und Schütze und durch den Kraftbereich der Milchstraße und des galaktischen Zentrums. Überwölbt vom ausgedehnten Schlangenträger. Das Sternbild ragt je nach Perspektive in den Tierkreis hinein oder schwebt darüber. Es scheint mir in ganz besonderer Weise mit der Zukunft des Menschen verbunden zu sein.

So wie in den hohen Breitengraden der Tierkreis mehr und mehr mit dem Horizont verschmilzt und das Kreisen der hohen Sterne um den Himmelsnordpol herum zum Erlebnis wird, hatte für die nordisch-germanischen Völker der Tierkreis kaum eine Bedeutung. Sie schauten hoch zum Zenit und zur Milchstraße als dem kosmischen Schoß, aus dem alles geboren wurde. Zur Götterdämmerung (Ragnarök), zum Weltenbrand und Kampf aller gegen alle, in welchen neben den Riesen, Göttern und Untieren auch die Menschen hineingezogen werden, tritt eine kaum beachtete Gestalt hervor. Sie hat bis dahin in aller Stille ihre Kräfte gesammelt, nicht zuletzt auch aus der Willenssubstanz, die ihr die Menschen in Treue geschenkt haben: Es ist Widar, der stille Ase. Ihm gelingt es als einzigem und letztem Überlebenden, das Ungeheuer zu überwinden. Er setzt dem Fenriswolf seinen Fuß in den Rachen – so wie der Schlangenträger seinen Fuß auf den giftigen Skorpion. Verbindet er die Geste des Michael mit der Zukunftskraft des Christus im Ätherischen? Er baut die Brücke aus der alten Welt der Götter zur Neuschöpfung durch den Menschensohn – so wie der Schlangenträger von der Waage bis fast zum Ende des Schützen, also im (siderischen) Sonnenlauf bis weit über den Zeitpunkt der Christgeburt reicht. Die Gesten des Widar und die des Schlangenträgers sprechen dieselbe Sprache.

Widar besiegt den Fenriswolf. Zeichnung von W.G. Collingwood 1908. Quelle: Wikimedia

Gleich neben dem Schlangenkopf steht eine Michaelsgestalt1, die in der einen Hand die Waage hält, in der anderen das Schwert erhebt, bis hoch zum Arkturus, dem hellen Stern auf gleicher Höhe wie der Scheitelstern des Schlangenträgers. Es ist die himmlische Entsprechung des Marduk / Michael der Babylonier – der später in die Beine der nunmehr liegend dargestellten Gestalt der Jungfrau verschwand. Die Würde des Göttlich-Weiblichen ist nun wieder aufzurichten, im Einklang mit der Mutkraft des Michael!

Gibt es also einen kosmischen Ort, aus dem Widar in die Gegenwart wirkt? Oder wirkt er eher durch die Erde2 und ihre Bewohnerinnen und Bewohner, die sich mit ihm verbinden? Ist der beschriebene Sternenort eher eine ‹Antwort› auf das, was heute «Menschen sprechen zu Sternen» (Steiner)? Auch diese Geste stimmt zusammen mit dem, was wir meditativ und in der therapeutischen Arbeit am Schlangenträger erleben. Der Schlangenträger birgt ein Geheimnis, das sich erst seit der Jahrtausendwende stärker bemerkbar macht. Er wirkt als übergreifendes Sternbild vom ‹Michael-Raum› zur Christgeburt, den gesamten Himmelsraum der ‹Stirb- und Werde-Zeit› durch den Advent und die Heiligen Nächte bis in die Epiphaniaszeit begleitend und mit seinen Zukunftskräften durchdringend. So können wir ihn erleben als Wegbereiter einer höheren Geburt, die sich an Weihnachten vollzieht und ein Vierteljahr später in der Osternacht auf höherer Ebene transformatorisch wirkt.3

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Footnotes

  1. Vgl. der ‹alte Held› in Novalis’ Märchen von ‹Eros und Fabel›.
  2. Mit diesem Anliegen verbunden sind mehrere Werke in der Edition Widar und grundlegend das Buch: Steffen Hartmann, Anton Kimpfler, Torben Maiwald (Hg.), Aus Widars Wirken. Außerdem: Volker Fintelmann, Steffen Hartmann, Mit Widar Zukunft schaffen.
  3. Der Autor schickt gern eine ausführliche Fassung des Artikels zu und freut sich über fachlichen Austausch zu aktuellen, wahrnehmbaren Verwandlungen in der Sternenwelt. raphael@baldron.com.

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