Das Kind wie ein Stern

Janusz Korczak war Arzt und dachte: Wenn ich etwas Wesentliches für die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen machen möchte, dann muss ich mit den Kindern leben und ihr Leben gestalten. So ist aus dem Arzt, Autor und Dichter ein Pädagoge geworden. Doch entzieht sich sein Werk und Leben ein Stück weit. Sie entfalten sich in einer anderen Welt. Er war Zeuge einer höheren Welt. Er war kein Schöpfer einer Pädagogik, kein Systematiker oder Wissenschaftler. Er war ein Erzieher.


Wir schreiben den 30. November 1940. Dieser Tag war die letzte Möglichkeit für die jüdischen Menschen in Warschau, in das Getto einzuziehen. Nur sechs Wochen lang hatten 400 000 Menschen Zeit, in diesen Bezirk umzuziehen. Auf weniger als drei Prozent der Stadtfläche sollte ein Drittel der Bevölkerung dieser großen Stadt leben. Der Krieg war in vollem Gange und in der großen Not hat es die Menschen sehr überrascht, als sie einen Zug Kinder, wie in einer Prozession, erblickten. Fast 170 Kinder zogen vorbei: schön und bunt gekleidet, mit Laternen, mit schön gemalten Bildern, mit Käfigen, mit Vögeln, singend, rezitierend, fröhlich. Sie wurden angeleitet durch einen kleinen, grauen, auch etwas glatzköpfigen Mann: Janusz Korczak. Mit seinem eigenen Namen Henryk Goldszmit. Er führte den Zug aus der Krochmalna-Straße, wo das jüdische Kinderheim war, das er über Jahrzehnte geleitet und aufgebaut hatte, in die Chłodna-Straße. Die vielen Kinder mussten ihr schönes Heim verlassen und in die ungenügenden, unpassenden Räume einer ehemaligen Handelsschule einziehen. Für Korczak war es wichtig, dass dieser Moment, so schwer er war, für die Kinder schön und freudevoll ist.

Wie schaffen wir eine solche Einstellung, eine Stimmung, in der wir uns von den Verhältnissen nicht unterkriegen lassen? Das war eine Maxime für Janusz Korczak. Er hatte zuvor Petitionen geschrieben, er hatte mit vielen Menschen gesprochen, damit er sein Heim aufrechterhalten konnte. Doch das hatte nicht geklappt. So setzte er dann alle Kräfte daran, das zugewiesene Handelsschulhaus auszuschmücken. Mit Blumentöpfen in den Fenstern, mit schönen Teppichen, mit Bildern. Der Zug von 170 Kindern und wenigen Erwachsenen wurde von Lastwagen begleitet, die Lebensmittel, Geschirr, Kleider, Koffer trugen. Als sie durch eines der acht Tore zum Getto kamen, wurden sie angehalten und ein Lastwagen wurde von einem deutschen Soldaten beschlagnahmt. Korczak war wütend und hat mit dem Soldaten gestritten. Es kam ein Offizier. Sie haben gesprochen. «Um was geht es dir? Das sind doch nur jüdische Kinder. Warum setzt du dich für die ein?» «Ja, ich bin ein Erzieher von diesen Kindern.» «Bist du etwa auch ein Jude?» «Ja.» «Wo ist deine Armbinde?» Die Armbinde hat er abgelehnt und nie getragen. «Das ist aber eine Verordnung.» Und dann sagte Korczak: «Es gibt menschliche Gesetze, die vergänglich sind, und höhere Gesetze, die ewig gelten.» Daraufhin wurde er verprügelt und kam ins Gefängnis. Nur durch eine Kaution konnte er freigekauft werden.

Janusz Korczak umgeben von Kindern in der Różyczka, einer Zweigstelle des Dom Sierot (Waisenhaus) in Gocławek. 1925–26. © Muzeum Warszawy

Danke dir, Schöpfer

Wenn man sich das Leben von Janusz Korczak vergegenwärtigt, dann waren das vier Kriege, die er durchlebt hat. Aktiv als Soldat und als Militärarzt: der russisch-japanische Krieg, als die polnische Bevölkerung auf der russischen Seite kämpfen musste; dann der Erste Weltkrieg, wieder an der Seite Russlands; dann der polnisch-sowjetische Krieg, in dem er wieder zwei Jahre an der Front verbracht hat; und der Zweite Weltkrieg, in dem er kämpfen wollte, aber nicht durfte. Zwei Revolutionen hat er erlebt und mehrere Gefängnisaufenthalte. Ein ziemlich hartes Leben, wenn man sich es vergegenwärtigt. Ein Jahrhundert voller Kriege, und mittendrin hat er sein pädagogisches Werk entfaltet.

Seine Maxime war es, eine menschenwürdige Umgebung für das Aufwachsen der Kinder zu schaffen. Wir können nach der Quelle der Freude fragen, die ihm ermöglicht hat, sein Werk trotz widriger Umstände zu entfalten. Eines seiner Bücher hieß: ‹Allein mit Gott. Gebete eines Menschen, der nicht betet›. Das hört sich religiös an und vielleicht konfessionell. Religiös trifft zu, konfessionell trifft gar nicht zu. Er war ein absoluter Freigeist und keiner religiösen Gemeinschaft zugehörig. Trotzdem war er ein tief spiritueller, tief religiöser Mensch. Dieses Büchlein wurde 1922 geschrieben, während einer großen biografischen Krise. Der polnisch-bolschewistische oder polnisch-sowjetische Krieg war gerade zu Ende. Korczak wurde als Militärarzt in ein Seuchenspital berufen. Und er hat sich bei seiner Arbeit mit Typhus angesteckt. Er kam nach Hause zu seiner alten Mutter, die ihn dann pflegte. Doch auch seine Mutter steckte sich an. Wenige Tage danach starb sie. Erst einige Tage nach ihrem Tode hat Korczak davon gehört und es trieb ihn wirklich nahe an den Selbstmord. Die 18 Gebete, die in diesem Moment entstanden sind, haben ihm offenbar geholfen, das zu überwinden. Im ‹Gebet eines Künstlers› schreibt er: «Danke dir, Schöpfer, dass du das Schwein geschaffen hast, den Elefanten mit dem langen Rüssel, dass du Blätter und Herzen zerfranst hast, dass du den Afrikanern schwarze Gesichter gabst und den Zuckerrüben die Süße. Dank für die Nachtigall und für die Wanze. Dafür, dass ein Mädchen Brüste hat. Dass die Luft dem Fisch den Atem nimmt. Dass es Blitze gibt und Kirschen. Dass du auf unsäglich wunderbare Weise uns hast auf die Welt kommen lassen. Dass du den Menschen so sehr verdummt hast, dass er meint, es ginge nicht anders. Dass du den Steinen, dem Meer, den Menschen einen Gedanken gegeben hast.»

Janusz Korczak mit Kindern und Mitarbeitern des Różyczka, einer Zweigstelle des Dom Sierot (Waisenhaus) in Gocławek, 1937–38. © Muzeum Warszawy

Eine typisch rätselhafte Aussage von Janusz Korczak. Da spricht eine riesige Freude, ein riesiges Interesse an der Schöpfung, an der Natur. Gott ist nicht irgendwo, sondern er ist überall. In mir, im Stein, in der Pflanze, im Tier. Im Kind, in den Sternen. Überall ist Gott. Indem ich ihn suche in den anderen Wesen, finde ich auch mich selbst, ihn in mir selbst. Ich bin verbunden mit der Welt in dieser göttlichen Substanz. Vielleicht ist das auch etwas, was ihn mit der chassidischen, ostjüdischen Geisteshaltung verbindet. Es besteht eine Freude an den Kleinigkeiten des Alltags. Korczak besprach seine Quellen nie, zum Beispiel den Chassidismus, aber er lebte offenbar aus diesem Geist heraus.

Ein zweites Element findet sich in seinem pädagogischen Hauptwerk, das übersetzt wird mit dem Titel: ‹Wie man ein Kind lieben soll›. Ein spannendes Buch, das in den Gräben des Ersten Weltkriegs geschrieben wurde. Korczak war bereits als Erzieher tätig und hat sich über diese schreckliche Zeit schreibend gerettet. Das Buch eröffnet er mit dem Bekenntnis, dass er eigentlich nichts weiß. Das Buch sei nur für die bestimmt, die Fragen und Anregungen zu Fragen suchen. In drei Zeilen führt er das aus: «Ich will lehren: das wunderbare, von Leben und faszinierenden Überraschungen erfüllte, schöpferische ‹Ich weiß nicht› der modernen Wissenschaft in Bezug auf das Kind zu verstehen und zu lieben.» In der Pädagogik müssen wir das ‹Ich weiß nicht› lernen und lieben. Sowohl die in der Waldorf-Pädagogik als auch die in der Anthroposophie sonst Tätigen sollten sich das sehr zu Herzen nehmen. Die Waldorfpädagogik wird noch zu oft als eine Pädagogik der Antworten, des ‹Wir wissen Bescheid› erlebt.

Orchester unter der Leitung von Janusz Korczak, 1920–29. © Muzeum Warszawy

Was ist das Besondere am ‹Ich weiß nicht›? Es klingt so einfach, als ob es etwas wäre, für das ich nicht viel machen muss. Doch in Wirklichkeit ist es eine vollkommen schöpferische Tätigkeit. Ich muss Fragen aushalten, ich befrage die Wirklichkeit und lebe mit und arbeite an Fragen. Für Korczak war es diese Geisteshaltung, die ihm die Schöpfung erschlossen hat und ganz besonders die Kinder. Bereits von 1907 bis 1909 lebte er mit Kindern in Sommerlagern zusammen. In dieser Zeit schreibt er an einen Freund, er hätte 20 neue Kinder zu entziffern wie 20 Bücher, die in einer halb bekannten Sprache geschrieben sind. Die Kinder sind für ihn Rätsel. Das verbindet ihn sehr mit Rudolf Steiner. Steiner sagte: «Was ist das Lehrbuch, aus dem wir zu lernen haben, wo wir die Pädagogik lernen müssen? Das sind die Kinder selbst.» Beide hatten die Haltung, nicht zu wissen, was des Rätsels Lösung sei. Aber indem wir im Buch des Kindes lesen, reifen wir selbst. Das ist die zweite Quelle, die zu dieser Freude an der Schöpfung gehört.

Nicht jeder ist ein Schuft

Es gibt noch andere innere Brücken zwischen Steiners und Korczaks pädagogischen Impulsen. Jedoch war Korczak mit seinen Erkenntnissen sehr diskret. «Man kann nicht jede Wahrheit ausposaunen», hat er einmal in einem Gespräch angemerkt. Er war ein echter Meister des Wortes, und dazu gehört, dass er auch schweigen konnte. Auffällig ist, dass auch Korczak in Jahrsiebten gedacht hat. Für ihn waren die siebten Jahre ein Schlüssel für die qualitativen Wandlungen eines Menschen. In seinen Waisenhäusern waren nur Kinder zwischen sieben und vierzehn Jahren. Seine Arbeit ist ein bisschen zu vergleichen mit der Pädagogik des Klassenlehrers. Seine wichtigsten pädagogischen Werkzeuge sind aufschlussreich. Zuerst Aufenthalte in der Natur, das Leben mit Pflanzen und Tieren. Dann Geschichten, die er meisterhaft erzählte, aber auch selbst für die Kinder schrieb. Er war in seiner Zeit viel bekannter als Kinderbuchautor denn als Pädagoge. Drittens war er ein Meister der teilnehmenden Beobachtung. Er hat unglaublich viel geschrieben oder beschrieben davon, was er beobachtet hat. Da waren kistenweise Notizbücher, in denen er ganz systematisch Notizen und Beobachtungen und sogar Messungen festgehalten hat. Er hatte zwei große Themen, zu denen er eigentlich die Werke seines Lebens geplant hatte. Einmal über das Wachstum des Kindes und zum anderen über den Schlaf. Sein Vorbild war Henri Fabre, der französische Entomologe, ein Insektenforscher. Korczak beschreibt ihn in seinem pädagogischen Hauptwerk: «Der geniale französische Insektenforscher Fabre rühmte sich, er habe seine epochemachenden Beobachtungen an Insekten gemacht, ohne ein einziges zu töten. Er erforschte ihren Flug, ihre Gewohnheiten, Sorgen und Freuden. Er sah ihnen aufmerksam zu, wie sie sich in den Strahlen der Sonne vergnügten, wie sie miteinander kämpften und dabei umkamen, Nahrung suchten, Unterkünfte bauten und Vorräte anlegten. Es war ihm nie zu viel. Mit klugem Blick verfolgte er die mächtigen Naturgesetze in ihren kaum wahrnehmbaren Vibrationen. Er war Volksschullehrer, erforschte mit bloßem Auge.» Und dann: «Erzieher, sei du ein Fabre der Kinderwelt. Beobachte, beobachte, beobachte stundenlang.» Seine Erkenntnismethode könnte man so beschreiben: vor der Welt der Erscheinungen stehen, sodass diese Welt der Erscheinungen, zum Beispiel auch die Kinder, wie Tore zu einer höheren Welt und Wirklichkeit werden. Diese Oberfläche betasten, an mir wirken lassen, in meinem Inneren nachklingen lassen, die Sprache der Erscheinungen vernehmen. So lebt im Innern diese höhere Wirklichkeit auf, die in der Welt lebt, die in der Welt existiert. Da hat Korczak auf seine Art und Weise praktiziert, was Steiner in seinem Buch ‹Von Seelenrätseln› als Grenzorte des Erkennens beschreibt.

Janusz Korczak (Henryk Goldszmit) 1933. Foto: Edward Poznański. © Muzeum Warszawy

Auf diese Art wird die menschliche Biografie auf beiden Seiten durchlässig: Auf der Seite der Geburt und auf der Seite des Todes. Zu der Geburtsseite hin beschreibt er dieses Transparentwerden in seinem Hauptwerk: «Ich liebkose diese Kinder mit meinen Blicken, mit meinen Gedanken und der Frage: Wer seid ihr? Wunderbares Geheimnis. Und was birgt es sich in euch? Ich küsse sie so, wie ein Astronom einen Stern küsst. Der war. Der ist. Und der sein wird. Dieser Kuss sollte die Mitte halten zwischen der Ekstase des Gelehrten und einem demütigen Gebet.» Das Kind wie ein Stern. Das war und ist und sein wird. In jedem Kind ein Stern. Auf der anderen Seite des Todes fügen sich die letzten Zeilen der Widmung an seine Eltern aus seinem Buch ‹Allein mit Gott› an: «Ich danke dafür, dass ihr mich lehrtet: das Flüstern der Toten und Lebenden zu hören. Ich danke euch, dass ich das Geheimnis des Lebens in der schönen Todesstunde erkennen werde. Euer Sohn.»

Es ist bekannt, wie Korczaks eigener Todesmoment am 5. August 1942, 20 Jahre später, herankam. Er, einige Mitarbeitende und die 200 Kinder aus dem Waisenhaus wurden ins Vernichtungslager Treblinka überführt. Am Danziger Bahnhof bestiegen sie gemeinsam den Zug. Der deutsche Platzkommandant erkannte in Korczak den Kinderbuchautor und bot ihm an, den Zug zu verlassen. «Und die Kinder?», fragte Korczak. «Die Kinder fahren, aber Sie können hier bleiben.» «Sie irren sich, nicht jeder ist ein Schuft», war Korczaks Antwort und er schlug die Waggontür zu. Auch Palästina wäre zuvor noch für ihn Rettung gewesen. Es wurde für ihn bereits ein Zimmer in Jerusalem gesucht und doch hat er sich von dieser Vorstellung verabschiedet, denn er konnte sich nicht durchringen, ‹seine› Kinder hinter sich zurückzulassen. In einem der letzten Briefe an die Befreundeten in Palästina schrieb er etwas ganz Besonderes: «Das mag nicht ganz verständlich sein, aber ich glaube daran, dass ich, falls ich nicht als alter, müder, gequälter Mensch zu euch komme, um den Rest meiner Kräfte mit euch zu teilen, als Kind wieder zu euch kommen werde.» Er sah sich schon im nächsten Erdenleben als Kind, das sein Leben neu bei diesen Menschen in Palästina beginnt.


Aus der diesjährigen Goetheanum-Vortragsreihe ‹Stimmen einer menschenwürdigen Pädagogik im 20. Jahrhundert›.
Mehr zu sehen auf goetheanum.tv.

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