Das Böse ist eine Erfahrung, kein Ding

Die Wirkweisen des Bösen sind subtil. Umso wichtiger wird es, aufmerksam zu sein an der Kluft zwischen Freiheit und Verantwortung. Wer seine Freiheit nicht verantwortet, lädt das Böse in den Raum zwischen uns ein.


Das Böse ist heute auf raffinierte Weise in unserer Welt aktiv. Ich erlebe es in der Dissonanz zwischen der turbulenten sozialen Welt und meinem Sinn für Ethik und Moral. Ich kann die absichtliche, wahllose, grausame und unverantwortliche Gewalt, die bestimmten Menschen angetan wird, einfach nicht begreifen. Ich sehe subtile Ausdrücke des Bösen in unseren zwischenmenschlichen Herausforderungen. Ich sehe sie in alten Gemeinschaften, die nun unüberbrückbare Gegensätze aufweisen. Ich sehe sie in Vorurteilen und aggressiven Verhalten. Unsicherheit scheint zu dominieren, und die extreme Distanz zu den sich permanent umwandelnden Polaritäten erscheint als ein bodenloser Abgrund. Die wahrscheinlich auffälligsten Symptome der List des Bösen sind die dreisten Rechtfertigungen für Falsches und Schlechtes. Wenn die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion keine Rolle mehr spielt, bleibt mir nichts anderes übrig, als mir meinen Weg durch einen komplizierten und riskanten Ort zu erkämpfen. Das ist die moralische Sphäre, in der ich die Verantwortung für die Navigation übernehmen kann. Ich empfinde die perfiden Bestrebungen des Bösen in meinem Streben nach innerer Freiheit und Ausgeglichenheit. Ich gehe davon aus, dass andere mit dem gleichen Problem zu kämpfen haben. Wie findet man die heilende Kraft innerer spiritueller Aktivität in einem Feld, das von entmenschlichenden und dämonisierenden Kräften dominiert zu sein scheint?

Ist das Böse für das menschliche Gewissen so unergründlich, dass es moralische Grenzen überschreiten kann, bevor es als solches erkannt wird? Ist sein Mechanismus eine okkulte Umkehrung: das Unentschuldbare wird durch eine scheinbar rationale Rechtfertigung ersetzt – eine Art verführerische Maskerade –, bevor der Verrat darin offensichtlich wird? Das Böse ist eine Erfahrung, kein Ding. Es wird durch das, was von ihm ausgeht, greifbar. Das Böse zu fürchten, bedeutet, es zu nähren. Das Böse zu bekämpfen, bedeutet, es zu stärken. Seine Präsenz hat eine Art Dunkelheit und Undurchsichtigkeit, die es schwer erkennbar und noch schwerer fassbar macht. Es will nicht gesehen werden.

Bodenlos und gnadenlos

Die Geschichte des Bösen ist verbunden mit dem Impuls, die innere Freiheit zu zerstören. Es will den Menschen zu einer Arbeitsmasse reduzieren, die von äußerer Autorität geformt wird und dieser gehorcht. Die Liste der Beispiele ist lang und stammt aus der ganzen Welt. Einige wenige reichen aus: die Gewalt und Unterdrückung der Spanischen Inquisition im Namen der Religion; die Versklavung der Afrikanerinnen und Afrikaner und die Auslöschung der indigenen Kulturen in Nordamerika, unter der Rechtfertigung der Doktrin des ‹Manifest Destiny›1 und der Kapitalisierung natürlicher Ressourcen; das faschistische Streben des Dritten Reiches nach Macht und der Völkermord an Menschen, die es für unwürdig hielt. Die Rechtfertigungen für solches Handeln wären ohne verbreitete Täuschung, Gewalt und Angstmacherei niemals akzeptabel erschienen. Das perverse Genie von ‹Arbeit macht frei› an den Toren der nationalsozialistischen Vernichtungslager ist ein Beispiel für diese Täuschung. In der Geschichte der Propaganda finden sich noch viele weitere, aber dieses hat für mich eine besonders anschauliche und emotionale Wirkung. Der bewusste Einsatz von Sprache auf diese Weise ist manipulativ, zynisch und grausam, ein Gift. Wenn wir die Doppeldeutigkeit oder den Schatten dieser Sprache erkennen, können wir sie als die Lüge entlarven, die sie ist. Beides birgt Risiken. Die Lüge zu akzeptieren, sei es aus Unwissenheit oder unter Zwang, ist entmenschlichend. Die Täuschungen des Bösen erwecken den Anschein, dass es keine guten Entscheidungen gibt. Böse Absichten schwächen das eigene Gefühl für das, was wahr ist, und schüren Misstrauen.

Im Alter von zehn Jahren entdeckte ich ein Album mit Fotos aus dem Konzentrationslager Dachau. Mein Vater hatte sie aufgenommen, aber nie erwähnt, obwohl er andere Kriegsgeschichten erzählte. Das Album lag ganz oben im Bücherregal hinter Glastüren im antiken Sekretär in unserem Wohnzimmer. Die Kraft dieser Bilder macht mich innerlich immer noch krank. Auf seinem handschriftlichen Etikett steht ‹April 1945›. Diese Beweise wirken besorgniserregend auch in Bezug auf das, was wir heute in der Welt erleben. Die Bilder werfen die unergründliche Frage auf: Wie war das möglich? Das ist eine bodenlose Frage. Das Böse ist gnadenlos. Es ist allgegenwärtig und wartet darauf, wieder aufzutauchen und einen Moment menschlicher Verletzlichkeit zu nutzen – zum Beispiel wenn Gegensätze so unversöhnlich weit voneinander entfernt sind, dass sie ein Vakuum zwischen sich schaffen. Das Böse zögert nicht, ein solches Vakuum zu füllen. Meine jüdischen Großeltern erlebten das Böse in Form von Grausamkeit und Hass und flohen vor den Pogromen. Sie kamen in die usa auf der Suche nach Freiheit – Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, einer offenen Wirtschaft. Zwei Generationen später versuche ich die Allgegenwart des Bösen als prägende Kraft unserer Zeit zu charakterisieren. Aus meiner Perspektive mit über siebzig Lebensjahren ist das schockierend. Für die heranwachsenden Generationen ist es schwer, die längerfristigen Auswirkungen einer Abkehr von der Rechtsstaatlichkeit zu verstehen, die ursprünglich aus dieser Freiheit in der US-Verfassung hervorgegangen ist. Sie sind weit genug von den Idealen der politischen Freiheit entfernt, für die ihre Großeltern im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben. Wir erleben eine multidimensionale Krise. Es ist eine Krise des Rechts und der Rechte, die sich auf unseren Straßen und in unseren Gerichten abspielt. Es ist auch eine Krise der Kultur, die in der Frage nach der nationalen Identität und ihren Werten brodelt. Und es ist eine sich anbahnende Wirtschaftskrise, während wir uns aus der Realität einer voneinander abhängigen Welt zurückziehen. Die Ungerechtigkeit dieser fabrizierten Krise ist das ‹böse› Gegenstück zu dem, was eine gerechte Welt im Namen eines menschenzentrierten Lebens und einer Führung für die Menschheit hervorbringen könnte. Gehen wir in eine Zeit, in der wir weiter denn je von der Hoffnung auf ein dreifaches Gemeinwesen entfernt sind?

Den Geist sehen

Bei meiner Auseinandersetzung mit dem Bösen und seiner Präsenz in unserer Welt wurde ich sehr von Sergej Prokofieffs Buch ‹Die okkulte Bedeutung der Vergebung› inspiriert. Die Frage der Vergebung beschäftigt mich, besonders wenn ich mir wieder das Dachau-Album anschaue. Im Angesicht der erneuten Zunahme von Antisemitismus und der wirklichen Ängste von Einwanderern und ihren Familien fällt es mir schwer, zu vergeben. Alte Wunden werden wieder aufgerissen. Haben wir nichts aus unserer jüngsten Vergangenheit gelernt? Indem ich den Zusammenhang zwischen Freiheit und Verantwortung verstehe, kann ich bestenfalls für meine Mitverantwortung an aktuellen Ereignissen einstehen. Ich kann Verantwortung übernehmen und mich verpflichten, nicht zur Förderung des Bösen beizutragen, selbst wenn es sich gerade entfaltet. Ich kann mich fragen, ob ich so gehandelt habe, dass ich die Menschlichkeit in anderen anerkenne und unterstütze. Für mich ist klar, dass jeder Mensch, der Freiheit ausübt und keine Verantwortung für diese Freiheit übernimmt, das Böse aus seinem Inneren heraus und in den Raum zwischen uns einlädt.

Sich dem Bösen zu stellen und es zu transformieren, ist ein langer und mühsamer Prozess. Er erfordert unsere ganze Kraft und die Hilfe der geistigen Welt. Diese Arbeit ist, wie Prokofieff betont, für die Entwicklung der Menschheit und der geistigen Welt unerlässlich. Eine solche Transformation scheint noch weit entfernt, gefährlich nah an der Auflösung sogar. Einen solchen Wandlungsweg nicht einzuschlagen, ist eine Art Kapitulation vor dem Endziel des Bösen: uns für den Geist blind zu machen und ihn gänzlich zu leugnen. Wir alle tragen ein Stück Verantwortung für unsere Zeit, dafür, das Gewahrwerden des Geistigen in der praktischen Welt auszuweiten. Wie können wir diese Verantwortung nicht nur für das Böse, sondern auch für die heilenden sozialen Prozesse, die als Gegenmittel so dringend benötigt werden, wahrnehmen?


Bild Versklavte Menschen in einer Kakao-Plantage. Quelle: Social History Archive/Unsplash

Fußnoten

  1. Unter ‹Manifest Destiny› versteht man eine US-amerikanische Ideologie, die besagt, dass es eine teleologische Mission gibt, die kulturellen Vorstellungen der USA zu verbreiten. Damit wurde die Expansion und der Kampf gegen Indigene gerechtfertigt.

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