Dankbarkeit als pädagogische Triebfeder

Claudia Zaeslin im Gespräch

Claudia Zaeslin arbeitet seit 1998 als Mentorin auf freiwilliger Basis mit der Rudolf-Steine-Schule Mbagathi in Kenia zusammen. Wie sehr sie Dankbarkeit als Kern der waldorfpädagogischen Arbeit in Kenia und als Herz der afrikanischen Kultur erlebt, erzählt sie Nicole Asis im Interview.


Nicole Asis: Wie hat dich deine Freiwilligenarbeit in Kenia berührt?

Claudia Zaeslin In Kenia habe ich wirklich erlebt, dass Rudolf Steiners Erziehungskunst universell und für alle Menschen gültig ist. Ich habe gesehen, wie sich die Menschen für alles Spirituelle öffneten. In Nanyuki an der Mt.-Kenya-Waldorfschule gab es eine Lehrerin, mit der ich besonders tiefgehende Gespräche hatte. Sie strahlte, wenn wir über Anthroposophie sprachen, und wandte diese Ideen vollständig an. Die Lehrkräfte, mit denen ich arbeite, sind hervorragende Pädagoginnen und Pädagogen. Sie haben eine große Vorstellungskraft, eigene Ideen, eine lebendige Sprache, Lebenslust und sie können wunderbar Geschichten erzählen. Auch Improvisation gelingt ihnen leicht. Aber vor allem sind sie voller Humor und es ist sehr beeindruckend, wie sie Dankbarkeit an die Kinder weitergeben.

Was inspiriert dich, deine Arbeit dort fortzusetzen?

Es ist unheimlich befriedigend, mitzuerleben, welche Fortschritte die einzelnen Lehrpersonen machen. Der Lehrer der 3. Klasse in Mbagathi zum Beispiel hatte gar keine Erfahrung, als er die 1. Klasse übernahm. Ich durfte seine Mentorin sein. Heute ist er so ruhig und selbstbewusst, dass er 35 Kinder locker führen kann. Unsere Zusammenarbeit war sehr fruchtbar und er konnte sein Potenzial entwickeln. Für mich ist es auch deshalb so befriedigend, dort zusammenzuarbeiten, weil mir so viel Dankbarkeit entgegenkommt – sowohl vom Kollegium als auch von den Kindern. Ich höre von den Kindern jeden Tag «Danke schön» und «Gott segne Sie». Das ist ein wahrer Jungbrunnen. Einmal half ich einem Neunjährigen aus der 3. Klasse, der etwas Schwierigkeiten hatte. Er fragte mich danach, ob ich ihm auch bei den Hausaufgaben helfen könnte. Ich bejahte. Später nach der Schule ließ er sein Spiel liegen, als er mich sah und kam angelaufen und begann mit mir zu üben. Er hat mich so dankbar angeschaut und sagte dann: «Gott segne Sie!» Solche Erlebnisse habe ich immer wieder.

Die Samstagabende sind für die Internatskinder besonders beeindruckend. Sie werden selbstständig von der 9. Klasse organisiert. Sie bereiten kleine Sketche, Tänze, Lieder – ähnlich den Monatsfeiern bei uns – vor. Die ältesten Kinder kommen vor und kündigen das Programm an. Die anderen 100 Kinder schauen mucksmäuschenstill zu. Einmal waren auch Judith und Neema von der Schulleitung eingeladen. Ein Schüler hielt eine richtige Rede und dankte den Erwachsenen für ihre Arbeit im Namen aller. Bevor alle Kinder zu Bett gingen, wurde gemeinsam das Vaterunser gebetet.

Dankbarkeit gehört zur Lebensart in Kenia, was in der westlichen Kultur anders ist. Wie wird Dankbarkeit in der Schularbeit kultiviert und wie wichtig ist es, sie zu pflegen?

Die Kinder der Rudolf-Steiner-Schule Mbagathi kommen aus sehr einkommensschwachen Familien. Der morgendliche Haferbrei und das Mittagessen sind oft ihre einzigen Mahlzeiten am Tag. Sie leben in den Slums in der Umgebung, in denen Gewalt und Übergriffe vorherrschen. Aber die Lehrkräfte geben den Kindern durch ihre Stimmung und Einstellung die Dankbarkeit mit. Einmal riet ich für die 1. Klasse: «Lass die Kinder am Ende der Stunde die Augen schließen, mit dem Auftrag: Denk an all die wunderbaren Dinge, die du heute gelernt und getan hast.» Das funktionierte sehr gut – die Klasse war für ein, zwei Minuten ganz still. So machten sie es jeden Tag bis zur 3. Klasse. Ein Lehrer, den ich auch als Mentorin begleiten durfte, schaute aus dem Fenster und sagte zu den Kindern: «Schaut die Sonne an, wie wunderbar sie scheint und alles wachsen lässt!» Am nächsten Tag begrüßte er auf gleiche Art den Regen. Das hat den Kindern so viel gegeben, weil sie völlig in der Stimmung ihres Lehrers aufgehen konnten.

Ich bin selbst auch sehr dankbar, weil ich so viele wundervolle Dinge in der Schule erleben durfte. Es hat mich geöffnet und bereichert. Immer wenn ich in der Schweiz bin, denke ich daran, wie viel zum Beispiel 20 Franken dort Wert sind: Essen für einen Monat. Andererseits hat mich die Arbeit immer inspiriert. Ich fühle mich als Teil des Kollegiums, nicht mehr als Gast. Ich habe viele tiefe Freundschaften gefunden, und das ist ein großer Schatz.


Info
Die Rudolf-Steiner-Schule Mbagathi ist über 30 Jahre alt. Sie hat mehr als 400 Schülerinnen und Schüler, ein eigenes Seminar und ist die Mutterschule vieler Waldorfinitiativen in Ostafrika. Sie ist eine Schule für Kinder, die überwiegend in Slums zu Hause sind und kann nur durch Spenden aufrechterhalten werden.


Übersetzung aus dem Englischen von Franka Henn

Bild Claudia Zaeslin und Freundinnen auf der Ostafrikanischen Anthroposophischen Tagung 2024. Foto: Nicole Asis.

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