Wenn sich ein Wesen entwickelt, bleibt es dann dasselbe oder wird es ein anderes? Gilt das auch für ein Wesen wie Michael? So zeichnet sich ein heutiges Antlitz Michaels: seine Lanze ein Zauberstab, der die Materie beseelt.
Durch den Gedanken von Rudolf Steiner «Selbsterkenntnis wurzelt in Welterkenntnis; Welterkenntnis sprießt aus Selbsterkenntnis» stelle ich mir folgende Frage: Hätte ich ein völlig neues Erkennen bzw. Können gewonnen, wäre ich dann noch mein Ich oder wäre ich ein anderes Wesen geworden? Diese Frage lässt sich durch bloßes Vorstellen-Denken nicht leicht beantworten. Man könnte erwidern, die Pflanze entwickle sich ständig und sei dieselbe. In diesem Falle nehme ich an, dass sich das Wesen der Pflanze entfaltet anstatt entwickelt. Der einzige Fall, in dem ich in der Dunkelheit dieser Frage noch einen Schimmer erblicken kann, liegt im Hören. Hört man einen beliebigen Ton, spürt man, dass ein Wesen darin lebt. Hört man den Ton, der eine Oktave höher ist, bemerkt man, dass dasselbe Wesen darin lebt, nur auf einer neuen Stufe – was auch mathematisch bedingt ist. Das hinhörende Erkennen ist das Ohr oder Tor zur Inspiration. Es führt zur größeren, immateriellen und mathematischen Welt.
Wesensentwicklung
Ein weiteres Beispiel für die Wesensentwicklung findet sich in der letzten Ansprache von Rudolf Steiner am Vortag zu Michaeli 1924. Sie gilt als Vermächtnis seines Lebens und ist zugleich ein Hinweis auf die zukünftige Michael-Kultur. Eine Wesenheit, die im Untergrund der Menschheitsentwicklung strömt, auf- und untertaucht, verdichtet sich manchmal in einer Persönlichkeit. Ein Beispiel hierfür ist die in der Ansprache erwähnte Linie Elias-Johannes-Raphael-Novalis, die sich durch eine Inkarnationskette offenbart. Bemerkenswert ist, dass zwei Arten des Michael-Antlitzes darin zum Vorschein kommen: eine vor und um Christus, die andere in der Neuzeit. Die Willenskraft des Elias, die sich gegen den Irrweg stellt und das Volk zusammengeschlossen hat, ist michaelisch. Der Johannes vor (mit klarem Bewusstsein als Hülle des Höheren) und nach Christus (als vom Höheren Erweckter und Visionsöffner) ist ebenfalls michaelisch. In der Neuzeit, also im Zeitalter der Bewusstseinsseele fühlt es sich an, als habe sich dieselbe Wesenheit in Raphael und Novalis mit großer Sehnsucht nach dem Vollkommenen und Ewigen eher in eine weibliche als männliche, eher in eine künstlerische als religiöse und eher in eine ideale als irdische umgewandelt. Gibt es einen Grund?
Betrachten wir die gesamte nachatlantische Kulturentwicklung, so taucht eine Idee auf. Unser Zeitalter spiegelt die dritte nachatlantische Epoche wider, nämlich die altägyptische Kulturepoche, deren Motto ‹Wie oben, so unten› lautet. Es lässt sich erkennen, dass ihre Aufgabe darin besteht, das Geistige zu verwirklichen und zu materialisieren. Ihre Früchte sind die Pyramiden als Materialisierung der heiligen Geometrie und die Hieroglyphen als Materialisierung der heiligen Lautsprache. Es bleibt jedoch noch etwas davon zu erlösen, und zwar durch die fünfte nachatlantische Epoche, in der wir gerade stehen. Hören wir hin, dann hören wir die Mumien, die nach Wiederbelebung trachten und uns ständig anrufen. Man könnte sagen, dass die Aufgabe unseres Zeitalters die ‹Entmumifizierung› ist. Es geht darum, das Materielle zu ‹verseelischen› und zu vergeistigen. Insbesondere, wenn wir uns anschauen, wie weit wir in den letzten Hunderten Jahren in die materialistische Intelligenz hineingegangen sind. In diesem Sinne sind Raphael und Novalis Leuchttürme, die uns das Ziel dieser Kulturepoche aufzeigen.
Chinesischer Blick
In der chinesischen Kultur entdecke ich noch einen anderen Blickwinkel. Wir haben zwei größte und wichtigste Feste, die nicht, wie üblich in der Welt, christianisiert sind. Das erste ist das Frühlingsfest. Es findet statt, wenn der Neumond dem Frühlingsanfang, zwischen Wintersonnenwende und Frühlingstagundnachtgleiche, am nächsten ist. Man sucht also gleichzeitig nach dem neuen Mond und der neuen Sonne des Jahreslaufs. Diese Empfindung der Erneuerung ist tief in der Volksseele, ja sogar im Volksleib verankert. Es ist verwunderlich, dass sich dafür keine Mythologie oder Legende gebildet hat. Glücklicherweise gibt es eine Mythologie für das zweitwichtigste Fest, das Vollmondfest im Mittelherbst. Es liegt um die Herbsttagundnachtgleiche herum (in diesem Jahr fand es am 6. Oktober statt). Der Herbst gilt als die vollkommene Jahreszeit, was in der Farbe und Form der Pflanzenwelt abzulesen ist. So suchen die Chinesinnen und Chinesen den vollkommenen Mond in der vollkommenen Jahreszeit. Eine Version dieser Mythologie lautet folgendermaßen: Früher gab es zehn Sonnen, die die zehn Söhne der Sonnengöttin Xihe waren. Sie lebten bei einem göttlichen Baum im Ostmeer. Jede Sonne arbeitete einen Tag lang und sie standen in einer bestimmten Reihenfolge. Da sie mit dieser Reihenfolge jedoch unzufrieden waren, gingen eines Tages alle zehn Sonnen gleichzeitig auf und versengten die Erde. Daraufhin schoss ein junger Bogenschütze namens Houyi neun Sonnen ab. Neun Feuerkugeln fielen vom Himmel. Als Belohnung erhielt er von der Urgöttin Xiwangmu ein Lebenselixier. Er liebte seine Ehefrau Chang’e und schlug ihr vor, dass sie es zusammen einnehmen würden. Er warnte sie, es nicht vorab zu berühren. Doch ihre Neugier überwältigte sie und sie legte sich ein Stückchen des Lebenselixiers heimlich in den Mund, als Houyi das Haus verließ, um im Wald zu jagen. Es war die Nacht des Vollmonds im Mittelherbst. Ihr Leib wurde immer leichter und sie flog zum Mond, wo sie, nur in der Gesellschaft eines Jadehasen, einsam ewig lebte, während Houyi Jahre später starb.
Versuchung und Vollkommenheit
Sinnbilder der Mythologie sind wie Seifenblasen, mit denen ein Kind spielt und die unter der Sonne regenbogenhaft scheinen. Jede Berührung, selbst mit dem geringsten Intellekt, würde sie zum Zerplatzen bringen. Aber aus Sehnsucht danach, den wahren Sinn dahinter zu erkennen, wage ich es, mich diesen Seifenblasen zu nähern: Wieder einmal eine weibliche Figur, wie Psyche in der griechisch-römischen und Eva in der israelischen Mythologie, wieder einmal die Verführung durch Neugier, nämlich die Gier nach dem Neuen, wieder einmal geht es um (Un-)Sterblichkeit. Es lässt sich empfinden, dass die menschliche Seele damals so zart, schön und unschuldig war, dass sie nur durch eine Frau verkörpert werden konnte. Während Psyche und Eva durch die Verführung das Erkennen erlangen, erlangt Chang’e das Einswerden mit der Vollkommenheit. Die Sehnsucht nach dem Vollmond, der als ideales Sinnbild der Vollkommenheit gilt, ist ein zentrales Motiv in der chinesischen Dichtung. Die chinesische Astronomie wurde nicht, wie in anderen Kulturen üblich, nach der Sonne und dem Tierkreis, sondern nach dem ewig da seienden Polarstern und dem sich wandelnden Mond aufgebaut.
Die im Unteren lebenden beunruhigenden Kräfte, die sich als zehn Sonnen versinnbildlichten, sind mit der bestehenden Kosmosstruktur unzufrieden und suchen nach einer neuen Ordnung. Sie offenbaren sich als zerstörerisch. Um wieder Harmonie ins Leben zu bringen, hat eine Seelenkraft (der Schütze Houyi), die als Seeleninitiator angesehen werden kann und zukünftig eine Individualität aufbauen könnte, sie unerbittlich abgedämpft. Als Belohnung wird der Seelenkraft die Unsterblichkeit versprochen. Doch nicht zusammen mit dieser Seelenkraft, sondern allein genoss Chang’e das unsterbliche Leben, während diese Seelenkraft in Houyi erlosch. Eine offene Frage entsteht in der inneren Haltung gegenüber den sogenannten unharmonischen Kräften, die nach einer neuen Ordnung suchen. Könnten diese für die Entwicklung als notwendig, sogar positiv wahrgenommen und auf andere Art und Weise behandelt werden? Eine weitere offene Frage ist, dass die Seele noch nicht mit dieser Seelenkraft eins wird und unglücklich unsterblich lebt, während der Keim der Individualität, der sich als Houyi verkörpert, abstirbt. Für Chang’e, die keinen Lebenskern gewinnen kann, wird das Sich-aus-dem-Irdischen-Befreien und das Streben nach dem Vollkommenen eher eine Strafe als eine Emanzipation. Ein Gedicht aus dem China des 9. Jahrhunderts lautet: «Auf dem Mond bereut Chang’e gewiss, das Lebenselixier gestohlen zu haben. // Gegenüber dem blaugrünen Meer im tiefblauen Himmel fühlt sie sich Nacht für Nacht im Herzen einsam.»
Das Antlitz Michaels heute
Der Bogenschütze Houyi, ein Kämpfer, spielt eine ähnliche Rolle wie das michaelische Wesen. Er steht gewissermaßen zwischen der Geisteswelt und der Seelenwelt und hätte zu einem Lebenskern erwachsen können. Mit seinem Sterben verlor diese Kultur den Zugang dazu, sich mit dem Bösen sowie der vom Bösen erweckten Gegenkraft tiefgehend auseinandersetzen zu können. Ein Beweis dafür ist, dass es in der chinesischen Kultur kein Sinnbild für das Böse gibt. Ein weiterer ist, dass es zwischen dem Vollmondfest und dem nächsten Frühlingsfest kein bedeutendes Fest gibt. Könnte das Wesen Chang’e durch das michaelische Wesen wie Orpheus ihren Ehemann aus der Unterwelt erwecken und mit ihm eins werden, um wieder die Kräftewelt zu betreten? Dann würde ein neues Fest im Tiefwinter geboren, in dem das Tao aus der atlantischen Kultur und das Ich aus der nachatlantischen Kultur vereint werden könnten.
Wie sieht das Antlitz des Michael heute aus? Man müsste damit rechnen, dass sich das Verhältnis zwischen Michael und Drachen in Anpassung an die sich ständig weiterentwickelnden Wesensglieder der Menschen ebenfalls weiterentwickelt. Das dämonisch-drachenhafte Wesen hat sich gewissermaßen vom Herzorgan zurückgezogen und ist in das Gehirn-Nerven-Sinnessystem durchgedrungen. Nun wird das Böse öfter nicht mehr in instinktiver Weise, sondern im Gewand des Gedankens, der im Sinnessystem abgelagert ist und sich selbst als berechtigt beurteilt, vollzogen. Wie ein souveräner Todesgott waltet es im Gehirn-Nerven-Sinnessystem. Doch lässt sich ein Todesgott töten, wie es der mittelalterliche Michael getan hat? Nun lässt sich ein Wesen weder töten noch begreifen, sondern erkennen und auf einer höheren Ebene integrieren. Jeden Sinnes- sowie Gedankeninhalt auferstehen und weiterklingen zu lassen – sei es ein Bild, ein Klang oder eine Stimme vom Außen oder im Innen – und ihn zu befeuchten, beleben, vergeistigen, sei die Aufgabe des heutigen Michael. Wenn er von der künstlerischen bzw. poetischen Vollmondkraft und -sehnsucht durchdrungen wäre und damit besänftigt oder verzaubert werden könnte, wie es bei Raphael und Novalis der Fall ist, dann würde seine Lanze zum Zauberstab. Die entschiedene Willenskraft würde von der liebevollen Zauberkraft durchströmt, und dann könnte unser mit dem Michael-Impuls verbundenes Zeitalter als ‹magischer Materialismus› bezeichnet werden. Somit wäre die letzte Ansprache von Steiner gerade erst der Anfang einer neuen Kultur.
Nun taucht die erste Frage abermals auf: Würde sich das Wesen Chang’e mit dem Wesen Michael verschmelzen, wäre es dann dasselbe geblieben oder ein anderes geworden?
Bild Malerei von Sigrid Schenk (Detail); Pigmente und Bienenwachslasurbinder auf Leinwand








