Digitalisierung und Beschleunigung drohen, das Leben zu entfremden, die Seele zu vereinsamen. In der Anthroposophischen Medizin liegen in der Idee des Äthers und der Wärme dafür machtvolle Werkzeuge und Perspektiven für den einzelnen Heilenden und die therapeutische Gemeinschaft.
Es mag vermessen klingen, die Aufgaben der Anthroposophischen Medizin im 21. Jahrhundert zu beschreiben, und doch möchte ich als Mitverantwortliche der Medizinischen Sektion fragen: Was steht an? Wo stehen wir heute in der Medizingeschichte? Seit der Jahrtausendwende wird unsere Medizin von drei Entwicklungen geprägt, die unsere ganze Wachsamkeit verlangen: Die Ökonomisierung, d. h. die Notwendigkeit, im Gesundheitswesen sogar Gewinne zu erzielen, hat exponentiell zugenommen. Hinzu kommt als zweite Entwicklung das technische Vordringen in den Bereich des Lebendigen und als dritte die Digitalisierung. Diese drei Transformationen haben mit dem neuen Jahrtausend eingesetzt, bzw. Fahrt aufgenommen und prägen alle Felder der Medizin.
Blicken wir zunächst darauf, wie Rudolf Steiner im ersten Kapitel von ‹Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst› (GA 27), ein Buch, von dem er sagte – dass der Inhalt in Zukunft einmal die ausgebildete Wissenschaft sein werde – den durchaus dramatischen Vorgang des Sich-Durchdringens der geistigen Wesenheit des Menschen mit der Erdenstofflichkeit im menschlichen Organismus als Ausgangspunkt alles Krankheits- und Therapieverständnisses beschreibt: «Wie man den gesunden Menschen nur durchschauen kann, wenn man erkennt, wie sich die höheren Glieder der Menschenwesenheit des Erdenstoffes bemächtigen, um ihn in ihren Dienst zu zwingen, und wenn man auch erkennt, wie der Erdenstoff sich wandelt, indem er in den Bereich der Wirksamkeit der höheren Glieder der Menschennatur tritt, so kann man auch den kranken Menschen nur verstehen, wenn man einsieht, in welche Lage der Gesamtorganismus oder ein Organ oder eine Organreihe kommen, wenn die Wirkungsweise der höheren Glieder in Unregelmäßigkeit verfällt. Und an Heilmittel wird man nur denken können, wenn man ein Wissen darüber entwickelt, wie ein Erdenstoff oder Erdenvorgang zum Ätherischen, zum Astralischen, zum Ich sich verhält.» Die Erdensubstanz wird also der Geist-Wesenheit des Menschen anverwandelt, «transsubstantiiert».
In einer von uns Menschen geschaffenen technisierten Welt leben – von der Natur zur Unternatur
Zur selben Zeit wie dieses Kapitel – kurz vor seinem Tod am 30. März 1925 – schrieb Rudolf Steiner auch den letzten Michaelbrief ‹Von der Natur zur Unternatur› (GA 26). Während alles, was wir in den Naturerscheinungen und ihren Gesetzmäßigkeiten vorfinden, noch von göttlich-geistigen Kräften des Kosmos durchdrungen ist, hat sich alle Technik rein aus irdisch-menschlichem Denken entwickelt, sie hat jeden Zusammenhang mit dem kosmisch-göttlichen Ursprung der Welt verloren. Wir haben es nicht mehr mit der Natur, sondern einer neu geschaffenen Unternatur zu tun. Diese materiell-leblose technologische Sphäre ist für den menschlichen Geist seelisch so durchsichtig wie ein Kristall, während die gottgeschaffene Natur, je weiter man erkennend in sie eindringt, immer tiefere Geheimnisse enthüllt. Die kühle, kristallklare Technik birgt keinerlei Geheimnisse, sie ist im Prinzip komplett durchschaubar (GA 73a, S. 439). Diese nach unten hin emanzipierte Natur ist in die Sphäre Ahrimans getaucht und «muss als solche begriffen werden. Sie kann es nur, wenn der Mensch in der geistigen Erkenntnis mindestens gerade so weit hinaufsteigt zur außerirdischen Übernatur, wie er in der Technik in die Unter-Natur heruntergestiegen ist.» (GA 26)
Das wird die große Aufgabe sein in unserem Jahrhundert, und das Buch ‹Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst› ist nichts anderes als eine systematische Anweisung, wie wir in der Medizin so weit in die Übernatur aufsteigen können, um den in die Unternatur führenden Impulsen zu begegnen. Was bedeutet der «Gang in die Unternatur» für die Medizin? Vergegenwärtigen wir uns zunächst, dass wirkliche Heilung des Menschen ein Vorgang im Ätherleib mit seinen Gestaltungs- und Wachstumskräften ist, die es im Zuge der Behandlung einer Krankheit bestmöglich zu unterstützen gilt.
Physische Grundlage der ganz im flüssigen Element sich abspielenden Tätigkeit des Ätherleibs sind die plastischen, halbflüssigen Eiweißsubstanzen, aus denen unser Organismus aufgebaut ist: «Das Eiweiß ist diejenige Substanz des lebenden Körpers, die von seinen Bildekräften in der mannigfaltigsten Art umgewandelt werden kann, sodass, was sich aus der umgeformten Eiweißsubstanz ergibt, in den Formen der Organe und des ganzen Organismus erscheint.» (GA 27, Kap, IX) Die in ständiger fließender Bewegung befindliche Natur des Ätherleibes, der aus unserem Flüssigkeitsorganismus heraus die belebte Gestalt der Organe unaufhörlich in die Eiweißsubstanzen «hineinplastiziert», kann durch Ausbildung der imaginativen Erkenntnisstufe erfasst werden.
In den letzten beiden Jahrzehnten ist es nun mit atemberaubender Geschwindigkeit gelungen, diese Lebensvorgänge sozusagen ‹von der anderen Seite her› technisch zu erschließen und zu beherrschen. Dies wurde möglich durch den Zusammenfluss (‹Convergence›) zweier Entwicklungsströme: der rasanten Entwicklung der Molekularbiologie und der Digitalisierung. Dadurch können durch ‹biomedical engineering› die gewonnenen Daten aus einer unendlichen Anzahl molekularbiologischer Einzelheiten zu einer Art ‹elektronischen Abbilds› des Organismus neu zusammengefügt werden. Dieses elektronische Abbild beinhaltet verschiedene biologische Subsysteme, die immer die Endung ‹-omics› tragen: Eiweißorganismus = Proteomics, Stoffwechselprozesse = Metabolomics, Mikrobiom = Microbiomics etc. Mit ‹Multi-Omics› bezeichnet man das ‹ganzheitliche› Verständnis dieser biologischen Systeme in ihrem komplexen Zusammenwirken, um daraus schlussendlich ein immer präziseres Verständnis der physiologischen Vorgänge in Gesundheit und Krankheit des Menschen abzuleiten. Ziel ist die Perfektionierung der sog. Präzisionsmedizin mit passgenau zugeschnittenen, ‹personalisierten› Medikamenten für bestimmte molekularbiologisch ermittelte Abweichungen. Daraus leitet sich dann der Begriff der sog. elektronischen Gesundheit – ‹eHealth› – ab, die definiert ist als ‹Multi-omics enabled precision health›. Diese Computermodelle physiologischer Prozesse und bestimmter Krankheitsmechanismen sind schon so ausgefeilt, dass man mit ihnen bereits klinische Studien ohne wirkliche Patienten durchgeführt hat. Man beobachtet einen physiologischen bzw. pathologischen Prozess, simuliert diesen digital, dann simuliert man ein bestimmtes Medikament und verfolgt dessen Wirkung in der Simulation. Man beforscht nicht mehr nur den physischen Menschen, sondern viel effizienter sein elektronisches Double.
Das Buch ‹Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst›, in dem Rudolf Steiner und Ita Wegman gemeinsam das «System der anthroposophischen Medizin» vom Gesichtspunkt der geistigen Wesenheit des Menschen – seiner «Übernatur» – aus entwickeln (siehe das eingangs angeführte Zitat), wird, 100 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung, im kristallinen Unternatur-Bereich der Gesundheitstechnologie noch einmal neu geschrieben.
Neue Medikamente
Die Medikamente, die aus diesen Erkenntnissen mithilfe der ‹Convergence› entwickelt werden, greifen in vielfältiger Weise in den Eiweißorganismus mit seiner besonderen Beziehung zum Ätherleib des Menschen ein. Im Rahmen der Proteomics-Forschung werden kristallin anmutende dreidimensionale Modelle bestimmter, sich im lebendigen Organismus in ständig fließender Bewegung befindlicher Eiweiße, die im Rahmen eines Krankheitsprozesses, z. B. einer Krebserkrankung, pathologisch verändert sind, digital erstellt. Nach genauer 3D-Analyse der betreffenden Eiweißstruktur wird nun ein dazu passendes Medikament zielgenau ‹designt›, das die pathologische Aktivität dieses Eiweißes in die gewünschte Richtung modifiziert. Diese Medikamente werden insbesondere in der Onkologie heute bei vielen verschiedenen Krebserkrankungen eingesetzt und können in einigen Fällen Behandlungserfolge erzielen, die früher mit einer herkömmlichen Behandlung undenkbar gewesen wären.
Man wird das Kranke gesund nennen
Noch tiefer greift die mRNA-Technologie, die wir während der Corona-Pandemie in Form des neuartigen Impfstoffs erstmals kennenlernten, in den Eiweißorganismus ein. Es geht nicht nur darum, körpereigene Eiweiße zu modifizieren, sondern den Körper durch die von außen zugeführte mRNA zu veranlassen, bestimmte Eiweiße zu bilden, die er von sich aus nie bilden würde. Im Falle des Corona-Impfstoffs handelt es sich bekanntlich um das Spike-Protein, aber nun geht die Entwicklung mit großen Schritten dahin, auch andere Krankheitsbilder (insbesondere Krebs- und Autoimmunkrankheiten) mit dieser Technologie zu behandeln, indem der Körper z. B. veranlasst wird, Eiweiße zu bilden, die als vom Körper selbst produziertes ‹Medikament› Entzündungen oder Krebswachstum hemmen können. Da es leicht ist, in kürzester Zeit die verschiedensten mRNA herzustellen, bedeutet diese Entwicklung auch eine ungeheure Beschleunigung in der Entwicklung neuer Präparate.
Die Ich-Organisation des Menschen durchdringt den Ätherleib, der mit seinen kosmischen Kräften die stoffliche Substanz des Organismus so ‹plastiziert›, dass das physische Instrument der Individualität des Menschen immer aufs Neue in einer dieser angemessenen Weisen gebildet wird. Die mRNA-Technologie bedient sich nun des Ätherleibs für das Hervorbringen von Formen, die dieser aus sich selbst heraus nicht bilden würde und die sich naturgemäß dem Zugriff der Ich-Organisation entziehen, da sie ihrem Wesen nach mit dieser nichts zu tun haben. Es entsteht eine Eigendynamik im physischen Leib, die der Ich-Organisation fremd ist. Die Gefahr der Entfremdung des Leibes durch die neuen Therapieverfahren ist unmittelbar ersichtlich, denn es ist der physisch-ätherische Leib, der die Grundlage all unserer menschlichen Entwicklung auf Erden ist. Würde durch eine zukünftige Medizin ‹Heilung› darin bestehen, dass der Ätherleib, dessen umgewandelte Kräfte unsere Denkkräfte sind, gezwungen wird, Tätigkeiten zu vollziehen, die, statt die Übernatur (das Ich) in der Natur des Leibes zum Ausdruck zu bringen, den Leib nach technologischen Prinzipien der Unternatur bilden, so wäre eine gedeihliche menschliche Entwicklung durch die Medizin auf Dauer infrage gestellt.

Rudolf Steiner weist in dem Vortrag ‹Was tut der Engel in unserem Astralleib› (GA 182) in exakter Weise auf das Jahr 2000 hin, wo die hier beschriebenen Entwicklungen in der Medizin im eigentlichen Sinne begannen, und beschreibt dort die Möglichkeit einer menschenschädigenden Medizin, wo man «den Schaden nützlich» und «das Kranke gesund nennen» würde. Da geht es um Entwicklungen in der Medizin, die einerseits wirklich problematisch sind, andererseits z. T. Therapieerfolge vorweisen können, die ihresgleichen suchen, und bei der Behandlung schwerer, lebensbedrohlicher Erkrankungen vollumfänglich berücksichtigt werden müssen. Hier stellt sich die Frage der Urteilsbildung vor dem Hintergrund des individuellen Schicksals des Patienten und eines tiefen Durchdringens der Anthroposophischen Medizin mit ihrer Möglichkeit, hier eventuell Ausgleich zu schaffen.
Die Zeit heilt die Wunde
Was geschieht in der sozialen Sphäre? Es gibt ja ein Sprichwort im Deutschen: ‹Die Zeit heilt alle Wunden›, womit die Bedeutung des für die Wundheilung maßgeblichen Ätherleibs als eines Zeitleibs hervorgehoben wird. So wie wir in der Medikamentenentwicklung durch neue Technologien eine Akzeleration erleben, so erleben wir eine Beschleunigung in der therapeutischen Begegnung mit dem Patienten. Die durchschnittliche Dauer einer Erstkonsultation beim Hausarzt liegt in Deutschland bei acht bis zwölf Minuten! 2018 wurde in den USA in einer Studie untersucht, wie sich nach Krankenhausentlassungen die Zeit, die ‹Health Professionals› (z. B. die Krankenpflege oder Physiotherapie-Fachkräfte) bei Hausbesuchen mit den Patienten und Patientinnen verbringen, auf die Rate an Wiedereinweisungen auswirkt. Für 60 000 dokumentierte Hausbesuche konnte gezeigt werden, dass für jede Extraminute mit den chronisch kranken Patienten das Risiko für eine Wiedereinweisung ins Krankenhaus um 8 bis 13 Prozent sank. Alle Angehörigen der Gesundheitsberufe sind durch die Digitalisierung in ihrem Denken ständig mit einer der binären Welt entstammenden Logik konfrontiert, die ihrem Wesen nach mit dem Wesen und den Nöten des Patienten wenig bis nichts zu tun hat. In Zukunft wird sie so perfektioniert sein, dass dem Arzt vor der Konsultation des Patienten dessen aus allen Befunden ‹erschaffenes› elektronisches Double (s. o.) entgegentritt und sein Denken entsprechend imprägniert.
Die Begegnung im Ätherischen
Der US-Kardiologe Eric Topol spricht in seinem Buch ‹Deep Medicine – Künstliche Intelligenz in der Medizin. Wie KI das Gesundheitswesen menschlicher macht› die Hoffnung aus, dass in Zukunft KI durch Übernahme von Dokumentationsaufgaben mehr Zeit für die therapeutische Begegnung schaffen könnte. Ob und wie dies möglich sein wird, bleibt abzuwarten. Viel interessanter ist jedoch seine Beobachtung, dass durch die Fixierung auf das «digitale Abbild» des Patienten und den Zeitmangel ohne die Möglichkeit einer umfassenden sinnlichen Wahrnehmung desselben im Rahmen einer ausführlichen Anamnese und körperlichen Untersuchung eine «Entkörperlichung» (Disembodiment) der Begegnung von Arzt und Patient eintritt. Die Entfremdung vom Leib, die wir in Bezug auf die neuen Medikamente beschrieben haben, finden wir jetzt auch auf der Begegnungsebene. Es ist das große Geheimnis des Heilens, dass echte Empathie, die beim Patienten Vertrauen und Gesundungswillen weckt, nur möglich ist, wenn der Heiler in der Begegnung in gesunder Weise mit seinem Leib verbunden ist. Es gibt eine eindrückliche Darstellung Rudolf Steiners in den ‹Offenbarungen des Karma› (GA 120, 10. Vortrag), die die Wechselwirkungen der Ätherleiber von Therapeut und Patient («Austausch von Spannungen» wie positive und negative Elektrizität) beschreibt.
Rudolf Steiner standen all diese Entwicklungen mit großer Klarheit vor Augen. Im sog. ‹Jungmedizinerkurs› (GA 316, 8. Vortrag) gibt er im Januar 1924 eine Meditation über das Verhältnis von Körper und Seele und rät den jungen Medizinstudierenden, dass sie diese Meditation so ernst nehmen sollten, dass sie «leibbildend» wirke. Der Schulungsweg des anthroposophischen Arztes ist wesentlich darauf ausgerichtet, seine körperliche Hülle so auszubilden, dass sie ein brauchbares Instrument im therapeutischen Prozess werden kann – das genaue Gegenteil von ‹Disembodiment›.
Entwicklungsweg durch die Wärme
Die Brücke zwischen Geist, Seele und Leib wird gebildet durch die Wärme, die alle Dimensionen umfasst. Den jungen Medizinern sagte Rudolf Steiner: «Aber Sie müssen eben die Brücke finden, diese Wärmeorganisation so zu erleben, dass Sie aus dem Erleben der Wärmedifferenzierungen der einzelnen Organe herüberfinden zum Moralisch-Warmen. Sie werden dazu kommen müssen, das, was man ein ‹warmes Herz› nennt, so zu erleben, dass Sie dieses warme Herz bis ins Physische hinein fühlen werden. Sie müssen den Weg finden aus dem Wissenschaftlich-Physiologischen zum Geistig-Moralischen und aus dem Geistig-Moralischen zum Physiologisch-Anatomischen.» Der eigene, mit seinen individuellen Einseitigkeiten behaftete Leib wird durch den inneren Schulungsweg des Mediziners weiterentwickelt und ausgebildet, es wird ihm eine individuell errungene Moralität eingearbeitet durch die Wärme. Die sog. ‹Wärmemeditation›, die Rudolf Steiner den Jungmedizinern gab, dient dazu, den eigenen Ätherleib mit der tiefen Frage ‹Wie finde ich das Gute?› zu durchdringen. Die gesamte Anthroposophische Medizin ist in diesem Sinne eine Medizin der Wärme. Es entsteht dadurch der Boden für einen wachen Einbezug des individuellen Schicksals des Patienten in den therapeutischen Prozess. Gerhard Kienle, der ungeheuer weitsichtig war in diesen Dingen, drückte dies so aus: «Ein christlicher Arzt kann sich nicht damit begnügen, zu heilen, wenn auch unter spirituellen Gesichtspunkten, sondern er muss sich im Konkreten fragen, wie muss er therapeutisch handeln, damit auf der einen Seite das menschliche Wesen sich in der Leiblichkeit voll entfalten kann … und auf der anderen Seite aus der Erkrankung die Frucht für das ewige Wesen des Menschen entspringt, dass also in jeder Erkrankung der Auferstehungsprozess eingeleitet wird.» Diese Frage nach dem Heilen im Sinne des Karma wird sich uns mit immer größerer Dringlichkeit in Zukunft stellen. Sie wird den inneren und äußeren Verhältnissen hart abgerungen werden müssen.
Neue Formen der Gemeinschaftsbildung
Die technische Entwicklung ist in hohem Maße verbunden mit der Spezialisierung in allen medizinischen Berufsgruppen. Heute ist man nicht mehr nur ‹Kardiologe›, sondern man ist entweder ‹elektrophysiologischer Kardiologe› mit Spezialisierung auf Herzrhythmusstörungen, oder man spezialisiert sich auf Herzkatheter. Die Gefahr, den ganzen Menschen aus den Augen zu verlieren, liegt auf der Hand. Doch in dieser Frage war Rudolf Steiner Realist: «Nun will ich gar nicht sagen, dass sich der Arzt nicht spezialisieren soll, weil einfach die Techniken, die auftreten im Laufe der Zeit, diese Spezialisierungen bis zu einem gewissen Grade hervorrufen. Aber wenn die Spezialisierung eintritt, so soll ja wiederum die Zusammenwirkung, die Sozialisierung der sich spezialisierenden Ärzte immer größer und größer werden.» (GA 312, Vortrag vom 7.4.1920) Also die Spezialisierung hat, wenn sie gedeihlich wirken soll, zur Aufgabe, die Gemeinschaftsbildung auf eine neue, höhere Stufe zu heben.
Gerhard Kienle, der unter großen persönlichen Opfern das erste große Krankenhaus in Deutschland, das Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke, begründete, schrieb an einen ärztlichen Kollegen, der abspringen wollte: «Es ist wahrscheinlich möglich, durch die Bildung einer Klinik dem anthroposophischen Impuls auf medizinischem Felde einen Schritt zur Verwirklichung zu verhelfen, weil mit der Klinikbildung die Möglichkeit zum Aufbau eines Kollegiums als einer spirituell wirkenden, verbindlichen Gemeinschaft gegeben sein kann.» Und weiter: «Ich selber bin der Meinung, dass sich die medizinische Bewegung ohne einen solchen Schritt nicht wird halten können.» Ein Krankenhaus, wo Menschen in allen erdenklichen krisenhaften Schicksalssituationen behandelt und begleitet werden, wird so zur Mysterienstätte, wo durch die Kraft einer solchen aus moralischen Idealen heraus entstandenen Gemeinschaftsbildung Schicksal verwandelt werden kann.
Ein weiterer Impuls, den wir seit zwei Jahren in der Medizinischen Sektion pflegen, ist die einmal jährlich am Emerson College stattfindende Summer School, die Fragen der spirituellen Identität der spezifischen medizinischen Berufe ebenso wie einer daraus fließenden spirituellen Gemeinschaftsbildung gewidmet ist: Welche geistige Identität hat jede unserer medizinischen Berufsgruppen im esoterischen Sinn? Was ist die spezifische spirituelle Willensausrichtung in der Pflege, bei den Kunsttherapeuten, den Ärzten? Was sind die geistigen Quellen, aus denen wir jeweils schöpfen? Die gemeinsame Arbeit an diesen Fragen schafft durch sich selbst innige Gemeinschaft und stärkt den Enthusiasmus für die tägliche Arbeit mit unseren Patienten.
Gemeinschaftsbildung wirkt unmittelbar auf das Ätherische und schafft Gesundungskräfte. So kann es gerade in Anbetracht der Vereinzelung und Vereinsamung, die in unseren gesellschaftlichen Zusammenhängen herrscht, ungeheuer förderlich sein, bei bestimmten chronischen Erkrankungen Gruppenangebote für entsprechende Patienten anzubieten, mit edukativen und therapeutischen Elementen. Wichtig ist dabei, dass es sich nicht um ein unverbindliches Kursangebot handelt, sondern darum, dass eine konstante Gruppe z. B. über zehn bis zwölf Wochen gemeinsam einen Weg geht. Der therapeutische Aspekt wird dabei gewissermaßen potenziert durch die belebende Wirkung der Gemeinschaft, die Ängste abbaut und die Selbstwirksamkeit erhöht. Nicht selten entstehen schicksalsprägende Freundschaften.
Der Quell des Lebens
Der Wärme-Entwicklungsweg der Anthroposophischen Medizin und die daraus erwachsenden spirituellen Gemeinschaftsbildungen können uns so weit in die Übernatur führen, dass ein kräftiger, zukunftsweisender Ausgleich zum Gang unserer modernen Medizin in die Unternatur entsteht. Das Ätherische war ja Gegenstand unserer Tagung, und so frage ich: Wo liegen die Quellen des Lebens? Sie liegen in dem, was die moralischen Ideale anregt. Lassen wir uns durchglüht sein von moralischen Idealen und tragen diese als heilende, schöpferische Impulse hinaus in die Welt. Das ist der Quell. (Vgl. GA 202)
Der Artikel ist an den gleichnamigen Vortrag an der Jahreskonferenz der Medizinischen Sektion, September 2025, angelehnt.
Bilder aus ‹Die Kunst des Heilens›, siehe Youtube: Die Kunst des Heilens/The Art of Healing, Episode 1–4








